Das verschollene Reich
unredlichen Versuch, ihn auf Guys Seite zu bringen, doch aus dem Hintergrund seines Bewusstseins erhob sich eine Stimme, die er schon zuvor vernommen, jedoch geflissentlich verdrängt hatte. Nun ließ sie sich nicht länger unterdrücken.
Mit einer Verwünschung drehte sich Raymond zu seinen beiden Gefolgsleuten um. »Geht und fragt, ob es Nachricht von Mercadier gibt«, wies er sie an. »Er muss mir dies erklären!«
»Herr …« Die Männer blickten betreten zu Boden.
»Was?«
»Offen gestanden glauben wir alle …«
»Was willst du sagen?«, hakte Raymond nach, als der andere respektvoll verstummte. »Nun sprich schon, Mann!«
»… dass Saladins Gesandter nicht zurückkehren wird«, brachte der Kämpe den Satz widerstrebend zu Ende.
Raymond starrte ihn durchdringend an.
Anfang Mai hatte der von Saladin bestellte Berater Tiberias verlassen, kurz nachdem Al-Afdal bei Cresson den Sieg über die Tempelritter davongetragen hatte. Raymond hatte aufgrund dieses Sieges wachsende Unruhe verspürt, sodass sich der sadîq erboten hatte, nach Damaskus zu gehen, um, wie er sagte, Saladin die Freundschaft Raymonds zu übermitteln. Seither war er jedoch nicht zurückgekehrt, obschon der Graf mehrfach Boten nach Damaskus geschickt hatte.
Lange Zeit hatte Raymond sich geweigert, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Nun jedoch wurde die Stimme in seinem Kopf immer lauter. Was anfangs nur ein Flüstern gewesen war, wurde zu einem verzweifelten, alles übertönenden Schrei, der in Raymonds Ohren dröhnte und ihm klarmachte, was für ein selbstsüchtiger Narr er gewesen war.
Verrat!
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16
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»Die Decke indessen, das Gebälk und der Architrav sind aus dem Holz der Akazie, das Dach hingegen aus Ebenholz, auf dass es nicht verbrennen kann.«
Brief des Johannes Presbyter, 214 – 216
Bergfestung der Kerait
Zur selben Zeit
Rowans Blick war starr geradeaus gerichtet. Den bitteren Brandgeruch, der die Höhle erfüllte, ignorierte er so gut wie möglich, ebenso das Klirren des Eisens, mit dem die Glut geschürt wurde, und die dumpfen Stimmen, die sich in jener fremden, barbarischen Sprache unterhielten. Er versuchte, nicht an das Leid zu denken, das auf ihn wartete, nicht an den Schmerz, der ihn langsam auffressen würde … verdrängte den Gedanken, dass er diese Kammer nicht mehr lebend verlassen würde.
Wie Verbrecher waren er und Bruder Cuthbert von den Keraiten in Gewahrsam genommen und abgeführt worden, tief ins Innere der Felsenburg, wo sich der Kerker befand: eine finstere Höhle mit rußgeschwärzter Decke, von der mehrere dunkle, vergitterte Löcher abzweigten. In der Mitte gab es eine Esse sowie eiserne Schellen, die an Ketten von der Decke hingen. Dort hatte man die beiden Mönche angebunden und ihnen die Kleider vom Oberkörper gerissen. So standen sie nebeneinander, hilflos und unfähig, sich zu bewegen, während sich die Folterknechte darauf vorbereiteten, ihnen Wissen zu entlocken, über das sie gar nicht verfügten.
Während Rowan in stoisches Schweigen verfallen war, versuchte Bruder Cuthbert noch immer, Fürst Ungh-Khan davon zu überzeugen, dass sein Diener und er keine Hochverräter waren. Rowan verstand nicht viel von dem, was sein Meister auf Griechisch sagte, aber ihm war klar, dass es nicht die Furcht vor der Folter war, die Bruder Cuthberts Zunge löste, sondern die Liebe zur Wahrheit. Doch sosehr sich der Benediktiner auch bemühte, dem Anführer der Keraiten ihre Unschuld zu versichern – der grimmigen Miene und dem beharrlichen Kopfschütteln Ungh-Khans war zu entnehmen, dass er Argumenten nicht mehr zugänglich war.
Der Fürst schien das Urteil über seine Gefangenen längst gefällt zu haben, die Folter war nur noch eine Frage der Form. Wieder einmal, dachte Rowan bitter, hatten sich die Menschen ihre eigene Version der Wahrheit geschaffen. Bedauerlich nur, dass Cuthbert und er auf der falschen Seite dieser Wahrheit standen.
»Lasst es gut sein, Meister«, raunte er Cuthbert deshalb zu. »Die Entscheidung darüber, ob wir schuldig sind oder nicht, wurde längst getroffen.«
»Daran zweifle ich nicht«, versicherte der Benediktiner, auf dessen Stirn Schweißperlen standen. Schier unerträgliche Hitze ging von der Esse aus. »Dennoch weigere ich mich zu glauben, dass es so enden soll. Etwas geschieht hier, mein Junge, etwas Ungewöhnliches, dessen Ausmaße wir noch nicht ansatzweise erahnen. Das Herannahen dieses Heeres kann kein Zufall sein. Es passiert aus einem bestimmten Grund, und
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