Das verschollene Reich
ich will nicht sterben, ohne ihn erfahren zu haben.«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen, Meister?«, fragte Rowan. Die Ketten klirrten, als er verständnislos den Kopf schüttelte. »Wie könnt Ihr noch glauben, dass all dies einen Sinn ergibt? Hat sich unsere Mission nicht als Fehlschlag erwiesen? Hat sich nicht herausgestellt, dass das Reich des Johannes nicht existiert? Dass es keine Hilfe für das Königreich gibt? Jerusalem wird fallen!«
»Möglicherweise«, räumte Bruder Cuthbert ein. »Dennoch können wir nie wissen, wie alles zusammenhängt. Nur weil wir Gottes Plan nicht durchschauen, muss das nicht bedeuten, dass es ihn nicht gibt.« Er schickte ein Lächeln hinterher, das so voller Weisheit und innerer Ruhe war, dass Rowan ihn nur dafür bewundern konnte.
Inzwischen hatten die Folterknechte – kleinwüchsige, bleichhäutige Männer, die mehr Zeit unter Tage als im Licht zu verbringen schienen – ihre Vorbereitungen beendet. Mehrere Eisenhaken steckten in der Esse, deren Enden orangerot glühten. Ungh-Khan, der mit verschränkten Armen vor den Gefangenen stand und sie wütend taxierte, sagte einige Worte in seinem eigentümlichen, seltsam klingenden Griechisch.
»Er will wissen, wer uns geschickt hat«, übersetzte Bruder Cuthbert, um gleich darauf die Antwort zu geben. Rowan verstand die Worte »Sibylla« und »Jerusalem«, was vermuten ließ, dass Cuthbert einfach die Wahrheit sagte. Doch das Mienenspiel des Fürsten zeigte deutlich, dass dies nicht die Wahrheit war, die er hören wollte.
Mit einem bellenden Befehl wandte er sich den Folterknechten zu, die daraufhin die Kettenwinde betätigten. Ein Schmerzensschrei fuhr aus Bruder Cuthberts Kehle, als sein betagter Körper an den Handgelenken emporgezogen wurde.
»Meister!«, rief Rowan entsetzt, doch die Folterknechte drehten unbeirrt weiter an der Winde, bis sich Cuthberts nackte Füße vom steinernen Boden hoben. »Ihr elenden Ratten!«, fuhr Rowan die Männer an. »Lasst ihn in Ruhe, oder ich …« In hilfloser Wut zerrte er an seinen eigenen Fesseln, die jedoch kein Stück nachgaben.
»Lass nur … Junge«, rief Bruder Cuthbert ihn zur Ordnung. »Es ist ihr Seelenheil, das sie gefährden … nicht das unsere.«
»Aber Meister …«
Ein wütender Schrei Ungh-Khans ließ Rowan verstummen. Der Fürst der Keraiten wiederholte seine Frage, worauf Cuthbert dieselbe Antwort gab wie zuvor, nur dass es diesmal sehr viel länger dauerte. In der hängenden Position wurde das Atmen zur Qual, der alte Mönch konnte nur stoßweise sprechen, die letzten Worte verkamen zu einem Keuchen.
Ungh-Khan verzog missbilligend das Gesicht. Dann nickte er den beiden Folterknechten zu, und sie zogen die Eisen aus der Glut, traten damit auf Cuthbert zu.
»Nein!«, schrie Rowan, aber niemand beachtete ihn.
Gefasst blickte Bruder Cuthbert seinen Peinigern entgegen. Seinen letzten Atem nutzend, begann er laut zu beten: »Pater noster, qui es in caelis …«
Einer der Folterknechte trat vor, hob das Eisen und wollte es ihm in die linke Achselhöhle stoßen – als ein neuerlicher Befehl Ungh-Khans erklang. Der Folterknecht ließ das Eisen sinken, Enttäuschung in den verkniffenen Zügen. Bruder Cuthbert, der sein Gebet unterbrochen hatte, schaute den Fürsten fragend an und sprach einige Worte. Ungh-Khan antwortete, worauf sich die Augen von Rowans Meister vor Entsetzen weiteten. Er schüttelte den Kopf und schien zu widersprechen, doch der Fürst der Keraiten lachte nur. Gleichzeitig gab er seinen Männern einen Wink, worauf sie Bruder Cuthbert wieder zu Boden ließen.
»Was sagt er?«, fragte Rowan hoffnungsvoll. »Konntet Ihr ihn überzeugen?«
»Es … es tut mir leid, Junge«, hauchte Cuthbert und schickte ihm einen Blick, der so viel Bedauern und Mitgefühl enthielt, dass es Rowan ängstigte. »Es tut mir leid …«
»Was?«, rief Rowan in einem Anflug von Panik.
»Er … er sagt, dass er meine verwundbarste Stelle gefunden hätte … nämlich dich!«
Rowan schaute verständnislos in die erschöpften Züge seines Meisters – als die Ketten über ihm auch schon zu klirren begannen und er ebenfalls hinaufgezogen wurde. Sein Körper streckte sich, er hörte die Knochen knacken, fühlte den Schmerz, als sein ganzes Gewicht an seinen Handgelenken zerrte, den Druck auf seiner Lunge. Doch all das war nichts im Vergleich zu der unsäglichen Pein, die er im nächsten Moment über seinem linken Rippenbogen spürte und die seinen Brustkorb zu zerfetzen schien.
Es
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