Das verschollene Reich
Ungh-Khan. Sollte sie …?
»Was hat das alles zu bedeuten. Wie konntest du mich finden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht deinetwegen hier, Rowan, ich wusste nicht einmal, dass ich dich hier antreffen würde. Ich bin hier, um den Herrn dieser Burg vor der herannahenden Streitmacht zu warnen.«
»Er weiß bereits davon«, versicherte Rowan. »Und er glaubt, dass Bruder Cuthbert und ich sie hergeführt haben.«
»Ist das wahr?« Tränen blitzten plötzlich in ihren Augen. »Musstest du deswegen diese … diese Qualen ertragen?«, fragte sie mit Blick auf die Brandwunden an seinem Körper.
Er nickte nur, worauf sie sich straffte und die Tränen wegwischte. »Es ist gut«, sagte sie, »nun weiß ich, dass alles einen Sinn hat.«
»Was? Wovon redest du?«
»Bruder Cuthbert ist am Leben«, stellte sie mit wehmütigem Lächeln fest, während ihr erneut Tränen in die Augen traten. »Das freut mich für dich, Rowan. Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt. Und bitte glaube mir, dass ich dir niemals Schaden zufügen wollte.«
»Cassandra«, stieß er hervor, »was hat das zu bedeuten?«
»Bruder Cuthbert«, wandte sie sich daraufhin mit fester Stimme an den Mönch, »sagt dem Herrn dieser Festung, dass ich es gewesen bin, die das feindliche Heer zu ihm geführt hat. Die Verräterin bin ich!«
»Was?« Bestürzt starrte Rowan sie an. Also war sein Verdacht …
»Es ist die Wahrheit«, versicherte sie. »Bruder Cuthbert, bitte sagt es ihm!«
»Nein!«, widersprach Rowan, der mit einem Mal die Qualen der Folterkammer wieder vor Augen hatte. Alle Fragen, alle Vorwürfe an Cassandra waren wie weggefegt. Da war nur noch Sorge um sie. Sorge und Angst. »Nein«, wiederholte er, »sagt es ihm nicht! Fürst Ungh-Khan, das Oberhaupt der Keraiten, ist voller Misstrauen und Rachsucht, er wird dich dafür töten lassen!«
»Ich habe Kenntnisse über die Stärke des heranrückenden Heeres, über seine Kampfweise und Bewaffnung«, fuhr sie unbeirrt fort. »Sagt Fürst Ungh-Khan, dass ich dieses Wissen mit ihm teilen werde, Bruder Cuthbert, wenn er Euch, Rowan sowie meinen Begleiter dafür in Frieden ziehen lässt!«
»Nein«, begehrte Rowan abermals auf, »das wirst du nicht tun! Du wirst dich nicht für uns opfern!«
»Es macht mir nichts aus«, versicherte sie mit bewundernswerter Gelassenheit. »Ich bin lange genug das Werkzeug anderer gewesen. Nun will ich tun, wozu mein Gewissen mir rät.«
»Wer hat dir das eingeredet?« Rowan deutete auf den schwarzen Ritter, der neben ihr stand. »Er etwa?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist das gewesen.«
»Ich?«
»Du hast mir beigebracht, dass der Geist frei ist, sich zu entscheiden. Ritter Kathan ist lediglich ein alter Freund. Ein sehr alter Freund, den ich fast vergessen hatte.«
»Du … du erinnerst dich wieder?«
Sie nickte. »Ich erinnere mich, Rowan. An alles, was einst war. Deshalb bin ich gekommen, um für meine Vergehen Buße zu tun.«
»Was für Vergehen? Wovon sprichst du?«
»Ich wollte es dir in jener Nacht sagen, aber ich habe es nicht über mich gebracht«, erwiderte sie leise. »Ich bin eine Spionin Saladins.«
Rowan kam nicht dazu, etwas zu erwidern. Ungh-Khan, der den Wortwechsel in der ihm fremden Sprache schweigend, aber mit wachsendem Unwillen verfolgt hatte, verlor die Geduld. Mit einem heiseren Schrei brachte er alle zum Verstummen, dann trat er entschlossen vor, Bruder Cuthbert im Schlepp, damit er für ihn übersetzte.
»Sagt es ihm«, bat Cassandra den Benediktiner. »Sagt ihm, dass ich es war, die das Heer der Sarazenen hergeführt hat – und dass ich eine feindliche Spionin bin.«
Erneut wollte Rowan widersprechen, aber die Speerspitzen, die er in seinem Rücken spürte, sagten ihm, dass es das Letzte gewesen wäre, was er auf Erden getan hätte. Auch Cuthbert sah sich einer Phalanx mörderischer Eisenspitzen gegenüber, also fügte er sich und übersetzte – worauf sich die ohnehin schon grimmigen Züge Ungh-Khans noch mehr verfinsterten. Er sprach einige Worte, die wie eine Frage klangen, und Cassandra antwortete, noch ehe Bruder Cuthbert übersetzt hatte.
»Vor vielen Jahren«, erklärte sie, »fanden Soldaten Nur ad-Dins, des damaligen Atabegs von Damaskus, in der Wüste einen Mann, der Hunger und Durst litt und am Ende seiner Kräfte war. Er erzählte ihnen, dass er an einer Expedition teilgenommen hätte, deren Ziel es gewesen sei, das Reich eines großen und mächtigen christlichen Königs zu finden, den er
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