Das verschollene Reich
wurden die Dinge immer verworrener. Ich begegnete Kathan, und plötzlich begann ich, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, an meine Kindheit. Ich begann zu verstehen, wer ich in Wahrheit bin und auf wessen Seite ich stehe.« Sie schluckte. »Doch ohne dich, Geliebter«, fügte sie leise hinzu, »wäre es niemals dazu gekommen. Du hast mir den Weg gewiesen – und das ist die Wahrheit, das schwöre ich!«
Ihre Worte verklangen, ebenso wie Cuthberts Übersetzung. Auf dem Innenhof wurde es still, nur das Pfeifen des Windes war zu hören.
Rowan wusste nicht, was er empfinden sollte.
Einerseits fühlte er sich verletzt, getäuscht, zurückgestoßen. Andererseits fand er nichts, worauf sich sein Zorn und seine Enttäuschung hätten richten können. Gewiss, sie hatte all diese Dinge getan, hatte seine Naivität und Gutgläubigkeit ausgenutzt, die Tatsache, dass er noch nie zuvor in seinem Leben mit einer Frau geschlafen hatte. Aber sie bereute ihre Taten und war auf ihrem Weg umgekehrt. Und ging es nicht letztlich genau darum, sowohl im Glauben als auch im Leben? Darum, sich selbst zu erkennen, seine Sünden und Fehler hinter sich zu lassen und ein neuer Mensch zu werden?
Cassandra war dieser neue Mensch geworden. Vieles von dem, was sie gesagt und getan hatte, mochte gelogen und geheuchelt gewesen sein, ihre Reue jedoch war echt, denn sie war bereit, ihr eigenes Leben zu opfern, um das ihrer Gefährten zu retten.
Wie konnte er ihr da noch zürnen?
»Du hättest nicht kommen sollen«, beschied er ihr leise, »denn wir alle wurden getäuscht, auch du. Dies mag die Burg sein, die du in deinen Träumen gesehen hast. Der Priesterkönig jedoch existiert nicht. Er ist nur eine Legende, ein Traum. Willst du dein Leben für einen Traum wegwerfen?«
Ungh-Khan sagte einige Worte, die Bruder Cuthbert übersetzte: »Der Fürst will wissen, wie du und dein Begleiter ohne unsere Hilfe hierher finden konnten.«
»Indem wir dem Heereszug der Sarazenen folgten«, erwiderte sie.
»Wie aber haben sie die Festung gefunden?«
»Es gelang ihnen, einige Späher gefangen zu nehmen«, erwiderte Cassandra. »Sie haben die Lage der Festung verraten.«
»Fürst Ungh-Khan sagt, dass dies unmöglich ist«, übersetzte Bruder Cuthbert die barsche Antwort des Keraitenführers. »Keiner seiner Krieger würde preisgeben, wo sich die Burg befindet.«
»Der Fürst kennt den Anführer der Sarazenen nicht«, erwiderte Cassandra. »Er kennt Wege, die Zunge eines jeden Mannes zu lösen. Er ist grausam und unnachgiebig, niemand weiß das besser als ich, denn er hat mich fast mein ganzes Leben lang beherrscht und betrogen. Aber das ist vorbei, deshalb bin ich hier. Ich werde Fürst Ungh-Khan alles sagen, was ich über das feindliche Heer weiß – wenn er meine Freunde dafür ziehen lässt.«
»Nein!«, begehrte Rowan auf. »Er wird dich töten lassen, sobald du ihm alles …« Ein harter Stoß gegen seine Rippen, genau dorthin, wo sich die noch frische Wunde befand, ließ seine Worte in ein kraftloses Zischen übergehen. Stoßweise atmete er durch die Zähne, hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.
»Nicht!«, rief Cassandra und wollte zu ihm, doch die Wachen versperrten ihr mit gekreuzten Speeren den Weg. »Ich werde alles sagen, was ich weiß, aber bitte tut ihm nichts mehr zuleide!«
Ungh-Khan schien keiner Übersetzung mehr zu bedürfen. Noch ehe der Mönch zu Ende gesprochen hatte, nickte er entschieden und machte dazu eine Handbewegung, die die Abmachung wohl besiegeln sollte. »Der Fürst ist einverstanden«, übertrug Bruder Cuthbert die Antwort. »Er ist bereit, uns freizulassen, wenn sich dein Wissen für ihn als nützlich erweisen sollte.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss euch sofort ziehen lassen. Wenn der Feind erst vor den Toren steht, ist es zu spät dazu.«
»Wie viele Angreifer sind es?«
»Etwas über zweitausend Mann, darunter viele Bogenschützen.«
Die Antwort, die Bruder Cuthbert ihm übersetzte, schockierte das Oberhaupt der Keraiten sichtlich. Rowan schätzte, dass insgesamt knapp tausend Menschen in der Festung lebten, darunter viele Frauen und Kinder. Vorausgesetzt, es gelang den Angreifern, die Kluft zu überwinden und den Vorhof der Festung einzunehmen, war es nicht weiter schwierig, sich auszumalen, wie die Auseinandersetzung enden würde.
»Ich will sprechen«, sagte in diesem Moment der einäugige Kämpe, den Cassandra Kathan genannt hatte, und trat vor, zum Missfallen der keraitischen Krieger,
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