Das verschollene Reich
wählen. Aber wer, mein Junge, sagt dir, dass die Sarazenen böse sind, nur weil sie unseren Glauben nicht teilen?«
»Nun, ich …« Einmal mehr war Rowan über eine Antwort seines Meisters verblüfft. »Führen wir nicht Krieg gegen sie? Haben wir ihnen das Heilige Land nicht mit Feuer und Schwert entreißen müssen?«
»Allerdings. Und du glaubst, der Herr blicke mit Wohlwollen auf all die Bluttaten, die in seinem Namen verübt und an Unschuldigen begangen wurden? Eines solltest du inzwischen gelernt haben, Junge: dass es bei den Kriegen, die um dieses Land geführt werden, selten um den Ruhm des Allmächtigen geht. Das Streben nach Macht und die Gier nach Reichtum sind es, die in Wahrheit die Handlungen der Menschen bestimmen, welchen Glaubens sie auch seien.«
»Aber …«
»Lass niemals zu, dass andere dir vorschreiben, was du zu fühlen und zu denken hast. Der Herr hat dir einen freien Geist und einen eigenen Willen gegeben, also benutze sie. Lass nicht dein Misstrauen und deine Furcht vor allem, was fremd ist, zum Herrn deines Handelns werden. Der Glaube der Sarazenen mag anders sein als der unsere, dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil ich ihrer Sprache mächtig bin, wie du weißt. Und weil ich den Koran studiert habe.«
»Den Koran?«
»Ihre heilige Schrift«, erklärte der Benediktiner. »Und nicht nur das – ich habe auch eine Übersetzung erstellt und sie der Abtei von Clairvaux überlassen mit der Bitte, sie weiter zu vervielfältigen und zu verbreiten.«
»Warum?«, fragte Rowan fassungslos.
»Weil es wichtig ist, einander zu verstehen«, erwiderte Cuthbert, »und weil wir bei allen Unterschieden, die zwischen uns bestehen, auch voneinander lernen können. Farid hat das in mancher Hinsicht schon getan. Wie es heißt, ist einer seiner Vorfahren ein christlicher Großwesir im Dienst des Kalifen gewesen, während seine Mutter eine Tochter Mohammeds war.«
»Und deshalb habt Ihr ihn ausgewählt?«
»Nein, du Einfaltspinsel«, widersprach der alte Mönch barsch. »Sondern weil Farid einen Vorzug aufweist, den kein anderer Führer in Jerusalem für sich in Anspruch nehmen konnte.«
»Nämlich?«, fragte Rowan, noch keineswegs überzeugt.
»Erinnerst du dich, dass vor etwa einem Jahrzehnt schon einmal eine Expedition aufgebrochen ist, um das Reich des Presbyters zu suchen?«
»Ja«, bestätigte Rowan, »Ihr sagtet, der päpstliche Leibarzt Philippus wäre der Anführer dieser Expedition gewesen.«
»Ganz richtig – und Farid hat diese Expedition seinerzeit als Kameltreiber begleitet.«
Rowan sandte Cuthbert einen überraschten Blick über die Schulter. »Sagtet Ihr nicht, die Expedition wäre nie zurückgekehrt?«
»Farid hat sie nicht bis zum Ende begleitet. Der Mut hat ihn verlassen, und er ist umgekehrt, was deine Einschätzung, seine Loyalität betreffend, bestätigen mag. Dennoch ist er somit der Einzige, der weiß, welche Richtung Philippus damals eingeschlagen hat. Und da es Übereinstimmungen zwischen seinen Berichten und dem gibt, was Cassandra uns aus ihren Träumen schildert, habe ich beschlossen, ihn mitzunehmen. Geht das in deinen schottischen Dickschädel?«
» Aye «, bestätigte Rowan, der sich in diesem Moment wie ein ausgemachter Trottel vorkam. Hatte er sich tatsächlich eingebildet, dass sein Meister etwas ohne guten Grund tat? Dass er ihrem Führer blindlings vertraute? Dass er klüger war als der alte Cuthbert? »Aber ich werde ihn dennoch im Auge behalten«, kündigte er entschieden an, um von seiner Würde zu retten, was noch zu retten war.
»So wie du Cassandra im Auge behältst?«
Es schwang weder Tadel noch Häme in der Frage, dennoch traf sie Rowan so hart, dass er beinahe vom Kamel gefallen wäre. Er war froh, dass er das Tuch um das Haupt geschlungen trug, denn seine Züge wurden schlagartig puterrot.
»Was? Wer …?«
»Keine Sorge, Sohn«, beruhigte Cuthbert ihn, »dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Aber du solltest die Tatsache, dass wir fern von geweihtem Boden sind und unsere Kleidung uns nicht beständig an unsere Gebote erinnert, nicht zum Anlass nehmen, dich von den Regeln des Herrn zu entfernen.«
»Ich … verstehe.« Rowan wandte sich rasch wieder um. Er brachte es nicht fertig, seinem Meister in die Augen zu sehen. Zusammengekauert saß er im Sattel, den Blick zu Boden geschlagen – und dabei musste er sich zwingen, nicht erneut nach der geheimnisvollen jungen Frau zu spähen, die vor ihm
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