Das verschollene Reich
der alte Mönch die Tiere ausgewählt hatte, verstand er sie auch mit Gerte und Stock zu dirigieren. Auch Cassandra waren die Tiere offenbar nicht fremd. Zwar hatte Cuthbert vorgeschlagen, dass sie in einer Sänfte reisen sollte, wie es Damen von hoher Herkunft zu tun pflegten, doch Cassandra hatte abgelehnt. Auf Cuthberts Anraten hin trug auch sie Kaftan und Gesichtstuch, um nicht gleich auf den ersten Blick als Frau erkannt zu werden, was auf der langen Reise von Vorteil sein mochte.
Da es keine Karte gab, die ihnen den Weg zum Reich des Priesterkönigs wies und der sie folgen konnten, war es eine Notwendigkeit, dass Cassandra sie begleitete. An jedem Tag wusste sie von neuen Träumen und Eindrücken zu berichten und vermochte Orte zu beschreiben, die Rowan ehrfürchtige Schauder über den Rücken jagten: von grünenden Oasen und spiegelnden Seen, die sich inmitten endloser Wüstenlandschaften erstreckten, von Ruinen aus längst vergangener Zeit, deren steinerne Knochen aus dem Sand ragten, und von Bildern, die in den Fels der Berge gehauen waren und von den ruhmvollen Taten eines Herrschers kündeten – womöglich des Priesterkönigs?
Ohne Zögern hatte sich die junge Frau bereit erklärt, die Expedition zu begleiten, sei es aus Dankbarkeit, weil ihr das Dasein als Sklavin erspart worden war, oder weil sie hoffte, auf diese Weise auch das Rätsel ihrer Herkunft zu ergründen. Was Rowan betraf, so schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits empörte sich sein Innerstes dagegen, Cassandra nach all den Fährnissen, die sie überstanden hatte, erneut einer solchen Gefahr auszusetzen; er konnte es nicht erklären, aber er empfand ihr gegenüber etwas, das er noch nie zuvor bei einem Menschen verspürt hatte: den unbestimmten Wunsch, sie beschützen und alle Unbill von ihr fernhalten zu wollen. Vielleicht, weil sie sein Mitleid erregte, so einsam und entwurzelt, wie sie war; vielleicht, weil er das Gefühl hatte, Ähnliches erlebt zu haben und sie deshalb gut zu verstehen; vielleicht aber auch – und dieser Gedanke versetzte ihn in Unruhe –, weil sie das schönste Geschöpf war, das er je gesehen hatte.
Sosehr es ihm also einerseits missfiel, dass Cassandra sie begleitete, sosehr behagte es ihm andererseits, sie stets in seiner Nähe zu wissen. Er beobachtete sie heimlich, wie sie auf ihrem Reittier saß, in aufrechter Haltung und von einem selbstverständlichen Stolz erfüllt, den er nie gehabt hatte; er konnte sich nicht sattsehen an ihren weichen, anmutigen Gesichtszügen und ihrem roten Haar; und wann immer der Blick ihrer dunklen Augen ihn traf, durchrieselte ihn ein wohliger Schauder.
Wäre es nach Königin Sibylla gegangen, so hätte außerdem eine Abteilung kampferprobter Tempelritter die Erkundung eskortiert. Cuthbert jedoch hatte dieses Ansinnen rundheraus abgelehnt. Er hatte argumentiert, dass Tempelherren, selbst wenn sie die Kleidung von Orientalen trugen, leicht zu entdecken wären und eine Konfrontation mit den Sarazenen das Ende der Expedition bedeutet hätte. Dieser Begründung hatte Sibylla nicht widersprechen können, sodass sie von ihrer Forderung abgerückt war. Rowan vermutete aber, dass sein kluger Meister die Eskorte auch deshalb abgelehnt hatte, weil er nicht auf Schritt und Tritt von Spitzeln der Königin beobachtet werden wollte. Mit taktischem Geschick und bedachten Worten hatte der alte Fuchs einmal mehr erreicht, was er wollte.Umso mehr wunderte sich Rowan über den Führer, den Cuthbert ausgewählt hatte und der das vierte Mitglied der Reisegesellschaft war.
Der Name des Mannes war Farid – und Rowan konnte ihn nicht leiden.
Von dem Augenblick an, da Farid el Armeni über die Schwelle von Meister Cuthberts Kammer getreten war, hatte er Rowans Misstrauen erregt. Nicht nur, weil der kurzbeinige Mann, dessen Alter unmöglich zu schätzen war, zur einen Hälfte Armenier und zur anderen Araber war und somit beiden Welten, der christlichen wie der orientalischen, gleichermaßen anzugehören schien, was Rowan an sich schon seltsam fand. Sondern auch, weil Farids unsteter Blick und seine gebrochene Art zu sprechen, seine unentwegt zuckende Miene und sein gestenreiches Gebaren ihm zutiefst missfielen. Vielleicht nur deshalb, weil es ihn an einen seiner früheren Meister erinnerte. Vielleicht aber auch, weil dem seltsamen Halbarmenier tatsächlich nicht zu trauen war.
Was Wortgewandtheit und Weisheit betraf, war der alte Cuthbert ihm fraglos weit voraus – wenn es jedoch um
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