Das verschollene Reich
Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis ging, hatte Rowan das untrügliche Gefühl, überlegen zu sein und auf seinen Meister aufpassen zu müssen.
Sie waren der Straße, die von Jerusalem gen Norden nach Tyros führte, zwei Tagesreisen lang gefolgt, ehe sie auf die darb al-hawarnah trafen, die alte Straße, die noch aus der Zeit der Römer stammte. Unterhalb der Burg Belvoir, die hoch über den Felsen des galiläischen Berglandes thronte, hatten sie die Furt über den Jordan genommen, den heiligen Fluss, in dem sich der Herr einst von Johannes dem Täufer hatte taufen lassen.
Das Land, das sich auf der anderen Seite des Jordans erstreckte, war steinig und rau und gehörte nur zu einem geringen Teil dem christlichen Machtbereich an. Lediglich ein schmaler Streifen Land, der sich nach Norden und Süden hin, wo die mächtige Feste Kerak lag, ein wenig verbreiterte, trennte das Königreich Jerusalem vom Land der Sarazenen, und da die Grenze weder befestigt war noch auf ganzer Länge bewacht werden konnte, kam es auf beiden Seiten fortwährend zu Übergriffen. Entsprechend unsicher war das Land, durch das die vier Gefährten und ihre drei Packtiere zogen, und entsprechend erleichtert waren sie, als sie die Handelsstraße nach Damaskus erreichten.
Sich als Kaufleute ausgebend, reihten sie sich in den unsteten Zug der Kamelzüge und Maultierkarawanen ein, die sich durch die steinige Landschaft schleppten, welche im Osten in die endlose Weite der syrischen Wüste überging. Zunächst waren es nur wenige Händler, denen sie unterwegs begegneten; je näher sie jedoch Damaskus kamen, desto zahlreicher wurden sie. Stoffe und Papyrus aus Ägypten, Töpferwaren und Datteln aus dem arabischen Grenzland, Wein und aus Olivenholz gefertigte Gegenstände des täglichen Gebrauchs aus Palästina, Steinsalz und Lederwaren von den Beduinen, Elfenbein aus den Tiefen Nubiens und noch vieles mehr wanderte auf dem Rücken von Kamelen und Eseln der fernen Stadt der Sarazenen entgegen, die zu erobern den Streitern Christi versagt geblieben war.
Der Anblick der weiten Landschaft, die sich majestätisch nach beiden Seiten der Straße erstreckte, der kühle Wind, der über die Berggrate fegte und strenge Gerüche und in fremden Sprachen wispernde Stimmen herantrug, der Strom der Karawanen, der sich von einem Horizont zum anderen zu erstrecken schien – all das ließ Rowan zum allerersten Mal etwas von der Freiheit und wahren Größe der Welt erahnen.
Wie sich sein Leben verändert hatte!
Eben noch saß er im carcer von Ascalon und wartete auf seine Bestrafung, nun befand er sich in der Obhut eines neuen Meisters und ritt dem Abenteuer seines Lebens entgegen. Was auch immer geschehen, welche Gefahren unterwegs auch lauern, welche Opfer auch von ihm erwartet würden – er würde sie bereitwillig erbringen aus purer Dankbarkeit, seinem alten Leben entkommen zu sein. An die Entbehrungen, die ihnen bevorstehen mochten, dachte er erst gar nicht.
Nur eines trübte seine Freude am Unbekannten und seine Sehnsucht nach der Ferne.
Farid.
»Darf ich Euch etwas fragen, Meister?«, platzte es schließlich aus Rowan heraus, als sie gerade die Kamele über enge Serpentinen einen Berghang hinauflenkten. Leichter Regen hatte eingesetzt, der die Büsche zu beiden Seiten des Weges in üppigem Grün erblühen ließ.
»Natürlich«, erwiderte Cuthbert, der hinter ihm ritt und die drei Lasttiere am Zügel führte. Vor Rowan ritt Cassandra, ganz an der Spitze dirigierte Farid sein Reittier über das vom Regen glitschige Gestein. »Was möchtest du wissen?«
»Wieso habt Ihr diesen Führer gewählt und keinen anderen?«, fragte Rowan rundheraus, wobei er Farid mit einem demonstrativen Fingerzeig bedachte. »Ich habe Euch schon in Jerusalem gesagt, dass ich ihm nicht vertraue.«
»Ich habe deine Bedenken zur Kenntnis genommen, Junge«, versicherte Cuthbert.
»Dennoch habt Ihr Euch für ihn entschieden. Und das, obwohl er ein treuer Gefolgsmann der Königin zu sein scheint.«
»Das ist wahr.«
»Und obwohl er zum Allmächtigen gleichermaßen betet wie zu Allah«, ereiferte sich Rowan weiter. »Und die Heiligen des Himmels scheinen für ihn auf einer Stufe mit dem Propheten der Ungläubigen zu stehen.«
»Und das beunruhigt dich?«
»Euch etwa nicht? Wie kann er rechtschaffen sein, wenn er das Gute und das Böse in sich vereint?«
»Ein jeder von uns vereint das Gute und das Böse in sich. Der Herr hat uns den freien Willen gegeben, um zwischen beidem zu
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