Das verschollene Reich
Rowan nickte.
In diesem Moment erhob der Vorbeter auf dem Turm der Moschee die Stimme. »Allah ist mächtig!«, drang sein Ruf über die Oase, über der sich ein inzwischen rot gefärbter Himmel spannte, und zum ersten Mal wurde Rowan bewusst, wie weit entfernt er tatsächlich von allem war, was er kannte.
Ein Gefühl von Einsamkeit überkam ihn. Er wandte sich Cassandra zu, um ihr zu bedeuten, dass sie ins Lager zurückkehren sollten.
Und dieses Mal lächelte sie.
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24
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»Kann man Feuer im Bausche des Gewandes tragen,
ohne dass die Kleider versengt werden?
Kann man auf glühenden Kohlen gehen,
ohne die Füße sich wund zu brennen?«
Sprüche 6,27 – 28
Nordfrankreich
29. November 1173
Früh am Morgen setzten sie ihren Ritt fort. Nach einer sättigenden Mahlzeit, die aus Getreidebrei und Ziegenkäse bestand und wohl mehr war, als der Bauer und seine Familie in einer ganzen Woche zu sich nahmen, brachen die drei Templer mit ihrer Gefangenen auf.
Sie ließen die üppigen Wälder des Nordwestens hinter
sich und stießen gegen Mittag auf die Straße nach Metz, dem Ziel ihrer Reise, wo die Templer eine Großkomturei unterhielten. Anders als noch vor ein paar Tagen, wo er das gefangene Mädchen wie eine Last quer über dem Sattel liegen hatte, ließ Kathan das Kind nun hinter sich auf dem Pferd reiten, die dünnen Arme um seinen gepanzerten Leib geschlungen.
So durchquerten sie eine weiße, in Kälte erstarrte Landschaft, in der sich kahle, schneebedeckte Bäume in einen grauen Himmel reckten. Nur hin und wieder passierten sie ein einsames Gehöft, ansonsten schienen die drei Tempelritter und ihre Gefangene die Einzigen zu sein, die sich in diesem einsamen Landstrich aufhielten. Der heulende Wind hatte nachgelassen, und jeder der drei Kämpen hing seinen eigenen Gedanken nach, sodass über Stunden hinweg nichts als das Knirschen der Hufe im Schnee und das gelegentliche Schnauben der Pferde zu hören war.
»Wohin werdet ihr mich bringen?«, fragte das Mädchen irgendwann.
»Nach Metz in die Komturei«, entgegnete Kathan wahrheitsgemäß.
»Was ist eine Komturei?«
»Von dort aus werden die Ländereien unseres Ordens verwaltet«, erklärte der Ritter bereitwillig. »Es ist eine kleine Siedlung, bestehend aus einem Gehöft und einer Kapelle.«
»So wie Forêt?«, wollte sie wissen.
Kathan spürte einen Stich im Herzen. »So wie Forêt«, bestätigte er.
»Und was ist ein Orden?«
Der Ritter seufzte. Ihm war klar, dass er nicht zu antworten brauchte, aber er war insgeheim froh darüber, dass sie mit ihm sprach. »Meine Waffenbrüder und ich gehören der armen Bruderschaft Christi und des salomonischen Tempels an«, erwiderte er.
»Was heißt das?«
»Wir haben gelobt, die Pilger zu beschützen, die das Heilige Land bereisen, um jene Stätten zu besuchen, an denen der Herr einst wirkte. Unser Kampf gilt den Ungläubigen und all jenen, die den Frieden der Christenheit bedrohen.«
»So wie die Menschen in meinem Dorf?«
Da sie hinter ihm saß, konnte Kathan ihr Gesicht nicht sehen. Aber aus der naiven Offenheit, mit der sie die Frage stellte, schloss er, dass sie dabei keine Bitterkeit empfand. Sie wollte nur die Wahrheit erfahren, die Gründe für das, was geschehen war.
»Nein«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Die Menschen in deinem Dorf sind gestorben, weil sie sich uns widersetzt haben. Sie glaubten, das Richtige zu tun, und wollten dich beschützen.«
»Also bin ich schuld an ihrem Tod.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung – allerdings eine, die Kathan schmerzte.
»Nein«, widersprach er abermals. »Du hast es weder entschieden noch hast du das Schwert geführt.«
»Dennoch seid ihr meinetwegen nach Forêt gekommen, oder nicht?«
»Das ist wahr«, musste Kathan zugeben. »Unser Auftrag lautete, dich zu finden und nach Metz zu bringen. Von dort aus wirst du vermutlich in eine der Burgen unseres Ordens gebracht, ehe du im Frühjahr nach Jerusalem fahren wirst.«
»Jerusalem?«
»Hast du schon einmal davon gehört?«
»Pater Edwin hat mir davon erzählt. Er sagte, Jerusalem sei der Mittelpunkt der Welt, sehr weit weg von hier.«
»Das ist wahr.« Kathan schluckte.
»Was soll ich dort?«, fragte das Mädchen.
»Man wird dir Fragen stellen, viele Fragen. Meine Brüder im Orden denken, dass du von Dingen weißt, die anderen Menschen verborgen sind. Von Dingen, die für uns von großer Wichtigkeit sind.«
»Ich? Aber ich bin doch nur ein kleines Mädchen!«
»Ich weiß.«
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