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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Kathan seufzte. Er hatte das Gefühl, als schlinge sich ein eisernes Band um seine Brust.
    »Von solch wichtigen Dingen habe ich keine Ahnung.«
    »Natürlich nicht.«
    »Aber ich habe manchmal Träume. Ist es das, was du meinst?«
    »Was für Träume?«
    »Ganz verschiedener Art. Und manchmal geschieht es, dass das, was ich träume, auch in Wirklichkeit passiert. Zum Beispiel wusste ich, dass ihr nach Forêt kommen würdet, auch wenn ich von Wölfen geträumt habe anstatt von …«
    »Schhh!«
    Mit einem Zischen brachte Kathan das Kind zum Schweigen. Mit verstohlenen Blicken versuchte er herauszufinden, ob die beiden anderen mitbekommen hatten, was sie redeten. Aber weder Mercadier, der vorn an der Spitze ritt, noch Gaumardas, der die Nachhut bildete, schienen etwas gehört zu haben, beide waren offenbar mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
    Kathan drehte den Kopf, sodass er das Mädchen aus dem Augenwinkel sehen konnte. »Hör mir gut zu«, schärfte er ihr flüsternd ein. »Was du mir gerade erzählt hast, darfst du niemals jemandem sagen, hörst du?«
    »Weshalb nicht?«
    »Weil ich es sage, deshalb«, schnarrte Kathan energisch.
    »Aber …«
    »Still doch«, zischte Kathan abermals, denn Mercadier hatte sein Tier angehalten, um die anderen aufschließen zu lassen.
    »Alles in Ordnung, Bruder?«, erkundigte er sich.
    »Natürlich.« Kathan nickte und spürte trotz seines Kettenhemdes, wie sich der Druck der dünnen Ärmchen verstärkte und das Kind sich schutzsuchend an ihn drängte, ausgerechnet ihn, ihren Entführer. Peinlich berührt und hilflos hielt er Mercadiers Blick stand, in dem zahllose unausgesprochene Vorwürfe lagen.
    Und Wissen.

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25
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    »Sie haben scharfe Zungen wie eine Schlange;
Otterngift ist unter ihren Lippen.«
    Psalm 140,4
    Königspalast von Jerusalem
19. Februar 1187
    Gespenstische Stille war in der großen Halle eingetreten. Von der schmalen, mit dem Reichsbanner geschmückten Stirnseite aus, wo der König von Jerusalem und seine Gemahlin thronten, konnte Sibylla den gesamten Saal überblicken, in dem sich der Adel eingefunden hatte – jedenfalls jener Teil davon, der noch treu zur Krone stand.
    Der Gedanke, dass das Wohl und Wehe des Reiches von der Zustimmung dieser Männer abhing, erfüllte Sibylla mit ohnmächtigem Zorn. Noch zu Lebzeiten ihres Vaters hätte keiner der Edlen es gewagt, das Wort des Königs anzuzweifeln. Während der Regentschaft ihres vom Aussatz geschwächten Bruders jedoch war die Macht Jerusalems beständig gesunken, sodass sich einige Familien – vor allem jene, die schon lange in Palästina weilten und hier zu Wohlstand und Ansehen gekommen waren – nicht mehr an die Weisung des Königs gebunden fühlten. Ziel dieser Zusammenkunft war es daher, die Spreu vom Weizen zu trennen und herauszufinden, welche Adelshäuser den König nach wie vor stützen und welche ihm womöglich schon bald in offener Feindschaft gegenübertreten würden.
    Noch vor wenigen Tagen hatte Sibylla gehofft, dass die Notwendigkeit ihren Gatten niemals dazu zwingen würde, sich und die Krone auf diese Weise zu erniedrigen. Doch nun schienen sich die Ereignisse zu überschlagen, und es wäre verantwortungslos gewesen, allein auf die Fähigkeiten Bruder Cuthberts zu bauen.
    Raynald de Chatillon, Fürst von Antiochia und der treueste Gefolgsmann des Königs, war der Erste, der die Worte wiederfand. »Unsere Befürchtungen haben sich also bestätigt«, sagte er in die entstandene Stille und schien dabei nicht einen Hauch von Bedauern zu empfinden.
    »So ist es«, bestätigte Guy, der auf dem Thron saß, auf Sibyllas Anraten hin mit Waffenrock und Rüstzeug angetan, um dem Adel Entschlossenheit zu signalisieren. »Was unsere Kundschafter uns aus Damaskus berichtet haben, lässt nur einen Schluss zu: Saladin rüstet zum Krieg. Und wir alle wissen, worauf er es abgesehen hat.«
    Sibylla war klar, dass es ihrer noblen Abstammung zum Trotz nicht gern gesehen wurde, wenn sie als Gattin des Königs die Stimme erhob. Also beschränkte sie sich darauf, sorgfältig zu beobachten und in den Mienen der Landherren und Barone zu lesen – und es erschreckte sie, die Angst in den geröteten, wohlgenährten Gesichtern zu sehen. Einzig in Raynald de Chatillons Zügen, obschon sie nicht weniger rund und rot waren als die der anderen, stand keine Furcht zu lesen. Im Gegenteil, die kleinen Augen des Herrn von Antiochien blitzten in unverhohlener Angriffslust.
    »Soll er ruhig kommen«, verkündete er

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