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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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sich gleich ausgedrückt? – von allen guten Geistern verlassen sein müsste, mir ausgerechnet dich als meinen neuen Adlatus auszusuchen.«
    »Ihr … Ihr habt mich ausgewählt?« Ungläubig schaute Rowan an dem Benediktinermönch empor.
    »In der Tat. Da es dem Herrn gefallen hat, mich mit einem langen Leben zu segnen und meinen Verstand im selben Maße zu erhalten, wie er meine Körperkraft hat schwinden lassen, bin ich auf die Hilfe eines Mitbruders verwiesen, wenn ich mich auf Reisen begebe – und nichts anderes habe ich vor.«
    »Ihr wollt zu einer Reise aufbrechen? Wohin?«
    »Jerusalem«, sagte Cuthbert nur.
    »I-Ihr geht nach Jerusalem?«, stammelte Rowan. »U-und ich soll mit?«
    »Eigenartig.« Der Benediktiner rieb sich das Kinn. »Ich dachte, ich hätte es mit einem wachen Verstand zu tun. Sollte ich mich etwa geirrt haben?«
    »Warum gerade ich?« Die Frage beschäftigte Rowan mehr als alles andere. Allein für die Aussicht, den Konvent von Ascalon zu verlassen, wäre er Bruder Cuthbert beinahe überall hin gefolgt – dass es nach Jerusalem gehen sollte, der hohen Stadt, von der er so viel gehört, die er aber noch nie betreten hatte, machte die Sache noch viel aufregender.
    »Zum einen, weil wir Landsleute sind«, erwiderte der Benediktiner lächelnd, was erklärte, weshalb er des Gälischen mächtig war. »Meine Geburtsstätte liegt nahe Dumfries. Dort wuchs ich auf, ehe die Mönche von Durham mich zu sich nahmen. Und irgendetwas sagt mir, dass wir Schotten, starrköpfig und eigenbrötlerisch, wie wir nun einmal sind, zusammenhalten sollten.«
    Rowan verzog keine Miene. Alles in ihm wehrte sich dagegen, diesen seltsamen Kauz sympathisch zu finden. Aber es war offensichtlich, dass er sich in mancher Weise von Rowans bisherigen Meistern unterschied. »Und zum anderen?«, wollte er wissen.
    Das Grinsen in Cuthberts jungenhaften Zügen wurde noch breiter. »Weil ich eine Schwäche für Rebellen habe.«
    Jerusalem
Zur selben Zeit
    »Und was gedenkt Ihr dagegen zu tun?«
    Die Frage stand im Raum, drohend wie die Spitze eines Dolchs, penetrant wie der beißende Geruch, den der Wind aus den engen Gassen des armenischen Viertels zum Königspalast herauftrug.
    Sibylla stand am Fenster und blickte gen Osten, zu ihren Füßen die Heilige Stadt, das Zentrum der Welt. Einsamen Wächtern gleich ragten die Türme und Kuppeln aus dem staubgrauen Häusermeer und der unüberschaubaren Wirrnis flacher Dächer, zwischen denen sich Straßen und Gassen erstreckten – hier die Kirche von Sankt Jakobus, dort jene des heiligen Martinus, den die Franzosen als ihren Schutzheiligen verehrten, rechts davon Sankt Peter. Und dahinter, hoch auf dem von mächtigen Mauern umgebenen Plateau, thronte der Felsendom, das Wahrzeichen der Stadt, in dessen goldfarbener Kuppel sich das Licht der aufgehenden Sonne brach. Das schwarz-weiße Banner der Templer wehte dort, die den heiligen Berg zu ihrem Domizil erkoren hatten. Zusammen mit dem trutzigen Turme Davids, in dessen Schutz sich der Palast des Königs erhob, stellte er den Pfeiler dar, auf dem die Macht des Reiches Jerusalem seit fast einhundert Jahren ruhte.
    Doch diese Macht war nicht unerschütterlich.
    Sibylla dachte an ihren Vater Amalric, der oft an diesem Fenster gestanden und auf die Stadt geblickt hatte, seine Stadt, für die er solch große und schwere Opfer gebracht hatte. Wehmut überkam sie, und sie riss sich von dem Anblick los, wandte sich wieder dem Mann zu, der jetzt in den königlichen Gemächern wohnte.
    »Ich habe Euch gefragt, was Ihr dagegen zu tun gedenkt, meine Gemahlin.« Guy de Lusignan saß auf der Kante des Bettes, das die Mitte der Kammer einnahm und in dem er stets allein zu ruhen pflegte. Wünschte er Sibyllas Gesellschaft, so besuchte er sie gewöhnlich in ihrer Kammer. In letzter Zeit allerdings waren diese Besuche seltener geworden. Guy plagten Sorgen, und diese schienen auch seine Manneskraft zu beeinträchtigen.
    »Was ich dagegen zu tun gedenke?«, erwiderte sie mit einem Anflug von Spott. Dies war nicht der Mann, den sie geheiratet hatte! Jener Guy de Lusignan, der einst aus Frankreich nach Jerusalem gekommen war, bereit, die Heiden mit eiserner Faust zu zerschmettern, war nicht zu vergleichen mit der traurigen, von Ehrgeiz und Sorge zerfressenen Gestalt, die dort am Bettrand kauerte. Jung und voller Tatendrang war er einst gewesen, ein strahlender Held in ihren Augen, dessen Avancen sie sogleich erlegen war. Noch keine zwanzig Winter war sie

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