Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
dass das Schiff an den Felsen zerschellte, sich in Holzsplitter auflöste und alle ins Meer gespült wurden. Lediglich der Engländer Anthony Thacher und seine Gattin Elizabeth schafften es, sich an Land zu retten und zu überleben. Alle anderen waren verschollen. Ihre vier Kinder waren verschollen. Und die Geschichte dieser beiden, die überlebt, aber alles verloren hatten, war so traurig, dass die Behörden in Massachusetts ihnen die Insel, vor der das Schiff gestrandet war, schenkten. Ja, hier waren sie: Anthony und Elizabeth, Elizabeth und Anthony, neu in dem neuen Land, gute Menschen, gottesfürchtige Menschen, denn sie wollten eigentlich nach Marblehead, um eine Kirche zu bauen, und jetzt hatten sie alles verloren, vier Kinder, in den Wellen verschwunden. Und die Insel – auf die sie sich gerettet hatten, die sie geschenkt bekommen hatten und gar nicht haben wollten – wurde Thacher’s Woe genannt, Thachers Wehklage. Doch erst im Dezember 1771, erzählte Siri, und jetzt schlief er bestimmt, dachte sie, jetzt war er ganz sicher eingeschlafen, brannten die beiden Leuchttürme, die Zwillingstürme, um vor dem gefährlichen Riff südöstlich der Insel zu warnen. Und da Thacher Island zu Cape Ann gehörte, wurden die Leuchttürme Anns Augen genannt, als könnten sie uns sehen, sagte sie, über uns wachen, als würden wir uns in ihnen auflösen und wieder zum Leben erweckt werden.
»Du leuchtest viel mehr«, flüsterte Jon und schmiegte sich an sie. »Dein Licht leuchtet.«
An einem Tag dort in Gloucester, weit weg von zu Hause, fragte er sie, ob sie mit ihm zusammen nach Charles Olsons Grab suchen wolle. Jon erinnerte sich, wie er und sie, die kleine Alma zwischen ihnen, über den großen und nicht gerade gut gepflegten, ja mehr oder weniger zugewachsenen Friedhof an der Essex Avenue liefen und Charles Olsons Grab suchten. Sie fanden es nicht. Und nach ein paar Stunden gaben sie auf und fuhren stattdessen nach Essex, stöberten in Antiquitätenläden herum, und Siri kaufte Alma einen kleinen blauen Puppenwagen, der in Gloucester blieb, als sie nach Norwegen zurückkehrten.
Jon hatte große Pläne für den abschließenden Band seiner Trilogie, er musste nur hineinfinden. Jetzt saß er in seinem Arbeitszimmer auf dem Dachboden von Mailund und war ganz sicher, dass der Roman sich in der Geschichte eines Mannes versteckte, der eine Geschichte erzählen wollte, eines Mannes wie zum Beispiel Herman R., und wenn es Jon nur gelänge, den Code zu knacken, stünde ihm die Tür zu seinen eigenen Geschichten weit offen.
Er sah seine Notizen durch.
Als Herman R. zwölf Jahre alt war und als Gefangener im Konzentrationslager Buchenwald in Deutschland saß, sah er eines Tages auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns ein kleines Mädchen. Hungrig und voller Angst fragte er das Mädchen, ob es ihm etwas zu essen geben könne. Es nahm einen Apfel und warf ihn über den Zaun.
Am nächsten Tag trafen sie sich wieder, jeder auf seiner Seite des Stacheldrahtzauns, sie sagten nichts, aber das Mädchen warf erneut einen Apfel über den Zaun. So trafen sie sich sieben Monate lang. Mal warf sie Äpfel über den Zaun, mal Brot. Dann wurde Herman in ein neues Lager verlegt, das Mädchen und der Junge wurden getrennt, aber Herman und seine drei Brüder überlebten den Krieg.
Fünfzehn Jahre später zog Herman R. nach New York, und dort begegnete er einer jungen Jüdin aus Polen. Die Frau hieß Roma. Roma erzählte, dass sie als Kind während des Krieges mit ihrer Familie in Deutschland gelebt habe, wo sie sich für Christen ausgaben. Sie habe in der Nähe eines Konzentrationslagers gewohnt, erzählte sie, und einem kleinen Jungen auf der anderen Seite des Zauns Äpfel zugeworfen.
Herman hatte das Mädchen gefunden, das ihn damals vor fünfzehn Jahren am Leben erhalten hatte, das Mädchen mit den Äpfeln, und er hielt sofort um ihre Hand an, und seither waren sie verheiratet.
Jon hatte vor vielen Jahren den Dachboden im Haus seiner Schwiegermutter in Mailund bezogen. Hier saß er und schrieb. Hier sollte der dritte Band entstehen, das glaubte er zumindest jetzt. Heute. Der Dachboden war voller LP s, Bücher, Notizhefte, dort gab es ein Puppenhaus, Puppenmöbel und Miniaturpuppen. Die Puppensachen hatten einmal Siri gehört. Der alte Ola, ihr Nachbar, hatte sie für sie geschnitzt, nachdem ihr kleiner Bruder Syver gestorben war.
Bevor Jon den Dachboden als Arbeitszimmer nutzte, hatte er als Speicher gedient. Jenny hatte fast alle
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