Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
Vom Netzwerk:
die Zeitungen geschrieben. Aber es war lange her, seit zuletzt jemand über Jons Bücher gesprochen oder geschrieben hatte, und jetzt war das Geld aufgebraucht. Übrigens: Jon hätte nie die Formulierung »weggehen wie warme Semmeln« gewählt – sie war nicht nur ein Klischee, sie war auch unpräzise. Warme Semmeln gingen nicht mehr weg wie warme Semmeln. Er hatte keine Beweise, aber er war sich ziemlich sicher: Warme Semmeln verkauften sich nicht besser als Handys oder zugige Wohnungen (beispielsweise in der Gegend, in der er wohnte) oder Anti-Age-Cremes. Er betrachtete Leopold. Sinn und Zweck einer Anti-Age-Creme war, dass Frauen (und bestimmt auch viele Männer, wohl aber keine Hunde) die Creme kauften und sich ins Gesicht schmierten, um jünger auszusehen. Sich jünger zu fühlen. Jünger zu werden. Die Zeit umzukehren. Nicht mehr zu altern, sondern zu anti-altern. Widerstrebend war er mit Siri in ein Einkaufszentrum außerhalb von Oslo gefahren. Sie hatten Weihnachtsgeschenke gekauft. Und als sie alles hatten, wollte sie noch kurz in eine Parfümerie, um sich eine Feuchtigkeitscreme zu kaufen, wie sie sagte.
    »Fühl mal, wie trocken meine Haut ist«, sagte sie, nahm seine Hand und strich sich damit über die Wange.
    Die Frau hinter der Theke trug einen weißen Kittel, als wäre sie Ärztin oder Wissenschaftlerin. Aber eigentlich, dachte Jon, war sie eine Halbgöttin aus der Mythologie. Die Frau unterhielt sich leise und angeregt mit Siri über die Lage der Dinge (sie waren sich in allem einig). Jon, der im Laufe seines fünfzigjährigen Lebens Zeuge mehrerer politscher Wechsel geworden war, konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Die glatte weiße Haut, der glatte weiße Kittel, die glatte weiße Stimme. Die Frau erwähnte den Tod mit keinem Wort, sie sprach von Schönheit. Und Siri, seine kluge, kühle, kritische und zornige Siri mit dem eleganten schiefen Rücken und der trockenen Wange lauschte gebannt und legte am Ende eintausendsiebenhundertneunundfünfzig Kronen auf den Tisch – von jener Million, die die Bank gerade auf ihr gemeinsames Gehaltskonto eingezahlt hatte mit dem Reihenhaus als Hypothek – für eine Creme, die Peptide, Retinol, EGF (erfunden von einem Nobelpreisträger, wenn man der Halbgöttin in Weiß Glauben schenken wollte), Collagen und AHA enthielt.
    Der letzte Band seiner Trilogie sollte das Thema Zeit zum Gegenstand haben. Jon wollte eine Hymne verfassen auf das, was bleibt, und das, was vergeht. Aber offen gestanden war er sich nicht sicher, was er eigentlich meinte, wenn er sagte, »was bleibt und was vergeht«, und wie er darüber schreiben sollte, aber niemand widersprach ihm, außer Leopold, der auf dem Boden lag und alle viere von sich streckte, mit der Hundeleine in der Schnauze auf ihn wartete und ihn daran erinnerte, dass ein Menschenjahr sieben Hundejahren entsprach. Wie viele Jahre ist es dann her, dass ich nicht mehr ordentlich Gassi geführt wurde, ich bin ein bescheidener Hund mit kräftigen Muskeln und langen Gliedern, und ich muss mich bewegen, andere Wünsche habe ich nicht.
    Eine Weile spielte er – Jon – mit dem Gedanken, den Faden von Walter Benjamins Passagen-Werk aufzugreifen. Natürlich würde etwas völlig anderes dabei herauskommen. Jon wollte einen Roman schreiben und kein achtbares, aussichtsloses Werk über die Passagen im Paris des neunzehnten Jahrhunderts (Walter Benjamin hatte für Romane nicht viel übrig gehabt). Etwas, das seinen Ausgangspunkt in Einkaufszentren nahm, den Passagen der heutigen Zeit, eine Schilderung der Dinge, nicht allein der Menschen.
    Jon seufzte.
    Siri kochte. Etwas Ordentliches. Keinen Schnickschnack. Die Leute aßen, was sie kochte, und waren satt und glücklich. Und hier saß er, Jahr für Jahr, und schrieb an einem Roman, der vielleicht von einem Einkaufszentrum handeln würde oder auch nicht. Leopold hob seinen großen Hundekopf und sah ihn an.
    »Die Idee«, sagte Jon zu seiner Lektorin, die Gerda hieß, »ist, ein Buch zu schreiben, das aus Bildern besteht – Nahaufnahmen und Übersichtsbildern –, aus Zitaten und Andeutungen … Gesichtern und Stimmen … privaten und kollektiven Erinnerungen … und, ja, Gegenstandsbeschreibungen.«
    »Ja«, sagte Gerda.
    »… eine Hymne an das, was bleibt, und das, was vergeht«, fuhr Jon fort.
    »Ja«, wiederholte Gerda. »Setz dich hin und schreib. Das wird schon. Du vergisst, dass du auch bei den ersten zwei Bänden Panik bekommen hast.«
    »Ich habe keine Panik«, sagte Jon und

Weitere Kostenlose Bücher