Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Spielsachen von Siri weggeworfen, als sie erwachsen und ausgezogen war, hatte es aber nicht übers Herz gebracht, die Puppensachen zu entsorgen.
Jon starrte auf den Bildschirm. Er hatte das Wort Herz getippt. Doch er hatte seine Zweifel, ob es eine Frage des Herzens war, dass Jenny die Puppensachen nicht weggeworfen hatte. Falls Jenny ein Herz hatte, war es klein und schwarz, es war in einen Schrein eingeschlossen und in einem Waldsee versenkt worden.
Was war mit Irma? Wie konnte man Irma erklären? Wer war Irma für Jenny? Groß und kräftig und breit, größer und breiter als Jon, und aus der Entfernung sah sie eher aus wie ein Mann, nicht wie eine Frau, doch aus der Nähe war sie überraschend schön, nicht ihr Körper, sondern ihr Gesicht, sie hatte lange blonde, gelockte Haare, volle Lippen und strahlte etwas Erhabenes aus, etwas Edles, fast Ätherisches – wie der Erzengel Uriel in Leonardos Gemälde Die Madonna in der Felsengrotte .
Irma lebte mit Jenny in Mailund und bewohnte die Kellerwohnung. Sie bezahlte keine Miete, legte jedoch bei vielen Dingen Hand an, was einer relativ unpraktischen Frau wie Jenny sehr gelegen kam. Irma hatte die unschöne Angewohnheit des Tabakkauens, was aber besser war als Rauchen. Jenny vertrug keinen Rauch. Ein paar Bedingungen hatte Jenny bei Irmas Einzug nämlich gestellt. Nicht rauchen. Nicht mit den Türen schlagen. Pünktlichkeit. Und nun kam sie ständig mit herrenlosen Tieren an – Katzen, Hunde, Meerschweinchen –, aber das war in Ordnung, solange die Tiere in der Kellerwohnung blieben!
Irma liebt Tiere mehr als Menschen, sagte Siri. Jenny selbst liebte Irma am meisten – falls sie überhaupt in der Lage war, einen Menschen zu lieben. Es hieß, dass Jenny Irma vor einem Mann gerettet hatte, der sie schlug. Jon konnte sich kaum vorstellen, dass es einen Menschen gab, der auf jemanden von Irmas Statur losgehen konnte – vielleicht war es aber gerade ihre Größe, die sie so verletzlich machte? Irma hatte bereits kapituliert, sagten die Leute auch, sie hatte sich zum Sterben hingelegt, als Jenny die Hand ausstreckte und sagte: Zieh zu mir.
Und Jenny und Irma standen womöglich für eine ganz besondere Form von Liebe, auch wenn Jon es für ausgeschlossen hielt, dass seine Schwiegermutter einen Menschen lieben konnte. Der Gedanke, warum sie sich vielleicht liebten und wie es möglicherweise zu dieser Liebe gekommen war, die Absprache zwischen den beiden (denn Jenny und Irma hatten ganz eindeutig eine Absprache, wer sie füreinander waren), wie sie ihr Leben ersannen, erinnerte Jon wiederum an die Geschichte von Herman R., und er ging seine Notizen noch einmal durch.
Wie erzählt man die Geschichte eines Lebens? So könnte ein möglicher Einstieg aussehen:
Eines Tages, vor etwas mehr als zehn Jahren, beschloss ein unbekannter, nahezu siebzigjähriger Mann, eine Liebesgeschichte zu schreiben. Bald ist Valentinstag, und eine Lokalzeitung hat aus diesem Anlass einen Schreibwettbewerb für die beste Erzählung ausgeschrieben. Die Erzählung soll von einem Mädchen handeln, das einen Apfel wirft. Herman sieht das Bild vor sich. Er hat es ein Leben lang in sich getragen. Es ist nie geschehen, es konnte nicht geschehen, er wäre auf der Stelle erschossen worden, wenn er sich dem stromführenden Stacheldrahtzaun genähert hätte, und doch geschieht es, indem er sich hinsetzt und die Geschichte aufschreibt. Mag sein, dass er aufblickt, mag sein, dass sein Blick auf Roma fällt, die Frau, die er geheiratet hat und die jetzt eine alte Frau ist. Er will eine Geschichte über ihre Kindheit schreiben, als sie in tiefster Finsternis lebten. Er in Buchenwald, sie versteckt zwischen Christen. Doch die Geschichte kann nicht nur dunkel sein. Sie muss einen Lichtblick haben. Sie muss einen Hoffnungsschimmer enthalten. (Kriegen wir das nicht ständig zu hören?) Und hat er nicht immerzu dieses Bild von dem Mädchen mit den Äpfeln in sich getragen? Er weiß nicht, woher es kommt, aber er betrachtet Roma, die beiläufige Geste, wenn sie sich durch die Haare streicht, eine Geste, die sie sich bestimmt als junges Mädchen angewöhnt hat und die ihr ein ganzes Leben lang gefolgt ist bis ins hohe Alter, er starrt sie an und erlebt, wie sie sich vor ihm offenbart und zugleich auflöst. Alle Barrieren, alle Vorbehalte, die Zeit und die Sorgen, alles, was Herman zu Herman macht und Roma zu Roma, wird weggerissen, und dort, auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns, im Dämmerlicht, sieht er
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