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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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das Mädchen mit den Äpfeln. Er hat es immer gewusst, sich immer danach gesehnt, jetzt braucht er es nur noch zu Papier zu bringen.
    Herman gewinnt den Wettbewerb der Lokalzeitung, er hat eine Geschichte über die Hoffnung geschrieben, und er besteht darauf, dass sie wahr ist (Jon besteht immer darauf, dass seine Geschichten nicht wahr sind, auch sind sie keineswegs voller Hoffnung), und die Geschichte von dem Mädchen mit den Äpfeln beginnt ein Eigenleben, sie setzt sich durch, wird zur eigentlichen Geschichte von Herman und Roma. Die beiden treten in Talkshows auf und erzählen immer wieder ihre Geschichte, Herman erhält einen Verlagsvertrag, Pläne für eine Verfilmung werden erörtert.
    Auf einer zerschlissenen Decke auf dem zerschlissenen orangefarbenen Sofa lag Jons Hund und hatte Appetit auf Herz, Nieren und Leber, Trockenfutter kam für ihn nicht in Frage, lieber hungerte er, als Trockenfutter zu fressen, darum hatte er auch den Namen Leopold erhalten. Er war ein großer schwarzer Labrador mit einem weißen Fleck auf der Brust und grimmigem Blick. Leopold, auch Leo genannt, wusste, dass Jon das Buch nicht zu Ende bekäme, was ihn bekümmerte. Der Grund für den Kummer war – schließlich war er ein Hund und nicht einmal ein besonders reflektierter –, dass Jon keine langen Spaziergänge mehr mit ihm unternahm. Ehe das Buch nicht fertig war, konnte man von Jon nichts anderes erwarten – außer, dass er das Buch nicht schrieb. Alles war in eine Warteposition versetzt.
    Siri erging es nicht so, sie hatte zwei Restaurants zu führen, nur Jon erging es so. Er tröstete sich und Leopold damit, dass alles wieder wie früher wäre, sobald der Sommer vorbei war und er das Buch abgeschlossen hatte. Und so saß Jon Tag für Tag vor dem Laptop und konnte nicht schreiben, oder er lag auf dem Boden und versuchte zu schlafen, oder er starrte aus dem Fenster und fragte sich, warum es so lange dauerte, bis Herman R.s Liebesgeschichte als Lüge enttarnt wurde, und warum die Geschichte nur so lange von Interesse war, wie sie der Wahrheit entsprach – was heißt, dass sie sich in der Wirklichkeit zugetragen hatte –, oder er las die Online-Ausgabe des Dagbladet und schrieb SMS an Frauen, die antworteten oder auch nicht, oder er aß Erdnüsse und trank Light-Bier (tagsüber niemals etwas Stärkeres). Herman R. hatte nicht gelogen, als er schrieb, dass er im Konzentrationslager gewesen sei. Das war die Wahrheit. Er hatte nicht gelogen, als er schrieb, er sei Roma fünfzehn Jahre nach dem Krieg in New York begegnet oder sie und ihre Familie hätten sich versteckt und als Christen ausgegeben. Das Einzige, was sich nicht in der Wirklichkeit zugetragen hatte, war die Sache mit den Äpfeln.
    Jon hatte ein Dachzimmer in Jennys Haus in Mailund, und er hatte ein Dachzimmer zu Hause in dem viel zu teuren und zugigen Reihenhaus in Oslo, das zu mehr als achtzig Prozent beliehen war. Warum die Bank ihm und Siri weiterhin vertraute und den Kreditrahmen ständig erweiterte, war ihm ein Rätsel.
    Jon beugte sich über die Tastatur und schrieb:
    Wann beginnt eine Geschichte, und wann endet sie? Herman R. log nicht im Hinblick auf Buchenwald. Er log im Hinblick auf die Äpfel. Doch indem er bei der Sache mit den Äpfeln log (sie trivialisierte, reduzierte, sentimentalisierte), log er damit auch im Hinblick auf Buchenwald?
    In Oslo kam es vor, dass er nachts auf dem Dachboden schlief. Dort war es noch zugiger als anderswo im Haus, aber er hatte seine Ruhe. Lag unter der Schräge und dem First und trank Whisky. Spielte Gitarre. Surfte im Netz. Verschickte und empfing SMS , die er sofort löschte. Es war nicht ganz klar, wann Jon und Siri angefangen hatten, getrennt zu schlafen. Es war nichts, was er sich wünschte, und auch sie wünschte es sich nicht, und es kam nur hin und wieder vor. Nicht sehr oft. Es war keine Dauerlösung. Aber hier in Mailund schliefen sie zusammen, hin und wieder sogar miteinander. Er streichelte gern ihre gekrümmte Taille (die so gekrümmt war, weil sie einen schiefen Rücken hatte), er strich ihr gern mit dem Finger über den schmalen Nacken.
    Jon stand auf und streckte sich ein wenig. Leopold folgte ihm mit dem Blick. Gingen sie jetzt Gassi? Nein, schon setzte er sich wieder hin.
    Im Verlag waren alle voller Zuversicht, dass Jon das Buch zu Ende bekäme. Darum hatte er einen weiteren Vorschuss von 200 000 Kronen erhalten. Band eins und zwei waren weggegangen wie warme Semmeln. Das hatten sie gesagt, das hatten

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