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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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wie Sie, ich meine, nicht solche wie Sie. Ich mache das nur für mich. Geheime Erinnerungsbücher. Geheim, weil ich sie niemandem zeige, ich habe auch noch niemandem davon erzählt. Nur Ihnen, jetzt. Sie sind der Einzige, der es weiß. Ich mache Fotos. Ich fotografiere alles, was mir vor die Linse kommt – Menschen, Tiere, Landschaften. Aber vor allem Menschen. Wenn sie nicht wissen, dass sie fotografiert werden. Ich klebe alle Fotos in das Buch. Und außerdem klebe ich Sachen ein, die mir etwas bedeuten. Alles, von Grasbüscheln bis hin zu schönen Zitaten. Und dann schreibe ich ein bisschen, aber nicht viel. Tagebuchnotizen.«
    Mille holte tief Luft. Jon hatte sich auf seinem Stuhl wieder umgedreht, jetzt sah er sie direkt an.
    »Hast du auch Fotos von dir?«, fragte er. »In deinem Buch?«
    Jetzt hatte er wieder diesen herausfordernden Blick.
    Mille wand sich ein wenig.
    »Nein, wie meinen Sie das?«
    »Ich meine: Das ist ein Buch von dir und über dich, und du erzählst mir, dass du jede Menge Fotos von anderen Menschen machst, die du einklebst, und da frage ich mich, ob du auch Fotos von dir selbst einklebst?«
    Mille wand sich noch mehr. »Ich sehe mich nicht gern auf Fotos. Ich bin nicht besonders fotogen.«
    »Gib mir dein Handy«, unterbrach Jon sie.
    »Was?« Mille kicherte.
    »Gib mir dein Handy, gib schon her, nur Mut.«
    Sie nahm ihr Handy aus der Jackentasche, ging zu ihm und legte es in seine Hand.
    Jon winkte sie ein paar Schritte zurück.
    »Stell dich dort in die Tür. So. Sieh mich an. Nicht so verkrampft. Schau mich einfach direkt an. Kümmer dich nicht um die Sonne in deinen Augen, das sieht gut aus. So, ja!«
    Jon machte ein Foto, und im selben Augenblick sprang Leopold auf und setzte sich neben die Tür. Mille stand in der Tür und betrachtete Jon, spürte die Sonne in den Augen, und es fühlte sich an, als streichelte er sie mit der Hand.
    »Sieh mal an«, sagte er und betrachtete das Foto. »Du siehst süß aus. Das kannst du in dein Buch kleben. Und siehst du das hier«, fragte er und zeigte auf einen schwarzen Fleck unten in der Ecke, »das ist Leopolds Schwanz.«
    Jon gab ihr das Handy zurück. Sie betrachtete das Bild. Sie sah gut aus – das konnte sie auf einen Blick sehen. Er hatte sie fotografiert, und sie sah gut aus. Das blaue Jeanskleid saß sehr adrett am Körper, der Pferdeschwanz stand ihr gut, ihre Lippen waren rot, und in ihrem Blick lag keinerlei Unsicherheit oder Unbeholfenheit. Deine Schönheit. Dein Licht.
    »Vielen Dank«, sagte sie. »Vielen Dank. Das ist ein schönes Foto.«
    Er wandte sich wieder seinem Computer zu und sagte: »Du, Mille, ich muss jetzt weiterschreiben. Okay?«
    »Okay«, sagte sie.
    Sie starrte auf seinen Rücken und hoffte, er würde sich noch einmal zu ihr umdrehen.
    »Und ich glaube, Liv wartet auf dich«, sagte er mit dem Rücken zu ihr. »Wolltet ihr nicht zum Strand?«
    »Doch«, sagte Mille. »Okay. Dann tschüs. Vielen Dank für die CD . Und für das Foto.«
    »Tschüs«, sagte Jon abwesend, er kehrte ihr immer noch den Rücken zu. »Tschüs.«
    Mille öffnete das Gartentor, holte tief Luft und verließ das Fest. Keiner würde merken, dass sie weg war, dachte sie. Sie hatte auf dem Fest ohnehin nichts verloren. Im Nebel mit den Alten tanzend. Sie war jung. Sweetheart like you . Sie war hübsch. Deine Schönheit. Dein Licht. Und wenn sie heute Nacht nach Hause käme, würde sie Jon schreiben, oder vielleicht sollte sie es lieber gleich tun, ganz bald. Die Straße wand sich wie eine Schlange den Berg hinunter, von Jennys Haus ganz oben bis zu den Anlegern am Meer. Zu beiden Seiten der Straße standen Hütten und Häuser, sie waren klein und im Nebel fast unsichtbar. Aber Jennys Haus war weder klein noch unsichtbar. Die Fenster waren hell erleuchtet, der Garten war erleuchtet, und die Stimmen und das Gelächter waren weithin zu hören.
    Mille lief los – dreh dich nicht um, dachte sie. Der leichte rote Kleiderstoff schwebte um ihren Körper, berührte kaum ihre Haut, der Wind brachte sanften Regen mit sich. Dreh dich nicht um! Es kam ihr vor, als hörte sie ihre eigene Stimme im Nebel, ihre eigene Stimme, wie sie damals klang, als sie noch klein war und mit Mikkel, ihrem Vater, der aus allem einen Wettkampf machen musste, eine Fahrradtour unternahm.
    »Ich will ein Eis haben, Papa!«
    Sie musste fest in die Pedale treten, um mit ihm mitzuhalten, sogar bergab musste sie fest treten.
    »Können wir nicht ein Eis kaufen?«
    Mikkel zog das Tempo

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