Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
sie und stellte es auf. »Siehst du, Simen, es ist nicht kaputt.«
Dann fragte Mille, ob sie ihn nach Hause bringen solle. Simen nickte, sah fast ein bisschen feierlich aus und ließ sich an die Hand nehmen.
»Wo wohnst du denn?«, fragte Mille, als sie den langen Berg hinuntergingen.
Sie hatte eine Hand in seiner, die andere auf dem Fahrradlenker. Der Regenschirm lag in ihrer Tasche, die sie über der Schulter trug.
»Fast ganz unten in der Straße«, sagte er. »Haus Nummer zwei auf der linken Seite, wenn du von unten kommst.«
»Aber wir kommen ja nicht von unten«, lachte Mille, »wir kommen von oben.«
»Hä?«, murmelte Simen.
»Wir kommen nicht von unten, sondern von oben, dann liegt dein Haus auf der rechten Seite. Dann müssen wir nach rechts schauen, um es zu finden.«
Anschließend sagten sie nichts mehr. Aber Mille sah ihn hin und wieder an, wie er neben ihr lief, aufrecht wie ein kleiner Zinnsoldat. Der Nebel hüllte sie ein.
»Als würde man sich in einer Wolke bewegen«, flüsterte Mille.
Als sie zu dem Haus kamen, sagte sie: »Ich heiße Mille.«
Sie lehnte sein Fahrrad an den Zaun. Er sah sie an und war kurz davor, wieder loszuweinen. Vielleicht weil sie gehen wollte.
Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Kopf.
»Ich heiße Mille«, sagte sie, »und du heißt Simen, und jetzt musst du nicht mehr weinen.«
Dann drehte sie sich um und ging.
J enny stellte sich hinter den Vorhang im Schlafzimmer und blickte auf all die schicken Gäste im Garten, die durch den Nebel wirbelten. Als könnten sie sich gegen ihn behaupten. Der Nebel war zu mächtig für sie. Zu schwer. Zu grau. Zu undurchdringlich. Zu stark. Zu schön. Jenny kniff die Augen zu. Sie hatte Kopfschmerzen. Ihre Hände zitterten. Und sie dankte dem Nebel dafür, dass er nur Nebel war und nichts anderes, denn alles andere hätte den Kopfschmerz noch verschlimmert. Rotwein half gegen Zittern. Das war erwiesen. Und Nebel half gegen Kopfschmerzen. Besser konnte es nicht sein. Prost! Ihre Füße lebten ihr eigenes fleischliches Leben in den nektarinfarbenen Sandalen, und das Kleid spannte am Bauch, so dass sie fast keine Luft bekam – genau wie damals, als sie mit Syver schwanger gewesen war und plötzlich aus dem Wald nach Hause laufen musste, um die Kleider zu wechseln. Ein eng anliegendes rot-weiß gepunktetes Sommerkleid gegen eins, das lockerer saß. Jenny machte die Augen auf und schaute aus dem Fenster. Sieh an, dort standen Daniel und Camilla mit ihren unglückseligen Töchtern, und da waren Steve Knightley aus Seattle, Berit und der gute alte Ola, ihr Nachbar, der nach Helgas Tod so grau und deprimiert gewesen war, dass er sich einen Hund zugelegt hatte, und schau einer an, dort waren die Damen vom Soroptimist Club und ihre früheren Kollegen aus Oslo, und was hatte Bente eigentlich an – einen Kaftan? Der war arg kurz geraten, oder? Hatte aber durchaus Ähnlichkeit mit dem Kaftan, den Jenny vor mehr als vierzig Jahren getragen hatte, als sie mit Syver schwanger war und all die anderen Kleider über dem Bauch allmählich spannten. Von einem auf den anderen Tag. Man geht durch die Welt und ist schwanger, und nichts zeigt sich, und nichts ist anders (außer der Übelkeit, die schleichend kam wie Nebel, jeden Abend, die sie tagsüber jedoch in Ruhe ließ), und plötzlich beult man hier und da aus, bekommt fast keine Luft mehr und muss aus dem Wald nach Hause rennen mit Bo Anders auf den Fersen und sich etwas anderes anziehen, das nicht spannt. Beide bekamen einen Lachanfall, als sie rannten und im Zimmer ankamen, das heute fast noch genauso aussah wie damals, und dann wurde Bo Anders ganz erregt und wollte auf der Stelle mit ihr schlafen. In genau diesem Bett. Jenny drehte sich um. Lag es an der Art, wie sie sich aus dem eng anliegenden rotgepunkteten Kleid schälte und sich ihm im Licht des Fensters offenbarte? Lag es daran, dass sie hier und da ausbeulte? Lag es an ihrem Lachen? Jenny blickte wieder aus dem Fenster. Dort war Jon. Und da war Siri in dem blauen Seidenkleid, das einmal ihr gehört hatte. Jenny holte tief Luft und leerte das Glas. Sie betrachtete ihre Tochter, die durch den Garten lief und die Gastgeberin spielte. Um Siri brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Auch wenn Jenny ihr manches nicht geben konnte. Siri hatte ihre Restaurants, und sie hatte Jon, und sie hatte ihre beiden Kinder. Sie waren nicht tot. Und sieh mal dort, wer da gekommen war, den weiten Weg von wo auch immer, steif gekleidet
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