Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
an, drehte sich um und betrachtete seine Tochter. Langer dunkler Pferdeschwanz. Rosa Mädchenfahrrad. Rosa Helm.
»Willst du ein Eis haben?«
»Jaaa!«
Er zog das Tempo noch mehr an.
»Wenn du gewinnst, kaufen wir uns ein Eis, wenn ich gewinne, kaufen wir keins. Okay?«
»Okay.«
»Bist du so weit?«, fragte er.
Mille war inzwischen so schnell, dass sie jetzt neben ihm fuhr.
Er sah auf sie herab. Er hatte einen schönen großen Mund, seine Haare flatterten im Wind. Sie sausten den Berg hinunter.
Mille ließ den Lenker los. Bergab konnte sie freihändig fahren. Das hatte Mikkel ihr beigebracht.
»Eins! Zwei! Drei!«, sagten sie gleichzeitig und bewegten die Faust durch die Luft.
»Schere! Stein! Papier!«
Mille entschied sich für Stein. Sie entschied sich immer für Stein. Mikkel hatte gesagt, sie müsse ab und zu variieren. Schlau agieren. Nicht immer dasselbe wählen. Das mache sie zur leichten Beute, sagte er. Aber Stein war Stein. Nichts war solider als Stein. Wickelte man einen Stein in Papier, traf er genauso hart, wie wenn er nicht in Papier gewickelt war. Der Stein büßte seine Kraft nicht ein. Mille war acht Jahre alt und sich ihrer Sache sicher. Papier war etwas für Memmen.
»Stein!«, rief sie und hielt ihre Faust triumphierend in die Luft.
Mille spürte, wie das Fahrrad nahezu abhob und losflog, wie ein Riesenvogel, sie sauste an ihrem Vater vorbei.
»Stein«, rief sie und drehte sich um, wollte sich vergewissern, dass er sie sah.
Als sie das Gleichgewicht verlor und sich das Fahrrad überschlug, war es, als würde der Abhang lebendig werden. Er schlug und kratzte und biss und prügelte auf sie ein.
Sie bekam gerade noch mit, wie ihr Vater – als er an ihr vorbeischwebte – mit den Lippen das Wort Papier formte. Seine flache Hand in der Luft, als winkte er ihr zu.
Dreh dich nicht um. Wenn du dich umdrehst, fällst du vom Fahrrad. Wenn du dich umdrehst, verwandelst du dich in eine Salzsäule. Wenn du dich umdrehst, stirbt dein Liebster. Deine Schönheit. Dein Licht. Mille drehte sich um. Das große weiße, hell erleuchtete Haus, das sie gerade verlassen hatte, strahlte etwas Einsames aus. Sie hörte Stimmen, Gäste, die riefen und lachten, aber die Geräusche waren in dicken Samt gehüllt. Der Nebel würde sie bald verschlingen. Das Haus. Den Garten. Die Menschen. Sweetheart like you . Mille lief weiter.
Mitten auf der Straße lag ganz verdreht ein Fahrrad, und im Graben saß ein kleiner Junge und weinte. Mille trat näher, der Junge sah auf, erblickte sie und weinte noch lauter. Sie ging vor ihm in die Hocke und sah, dass er sich das Knie und die Hände aufgeschrammt hatte. Er blutete. Splitt war in die Wunde am Knie eingedrungen. Der Splitt musste mit den Fingerspitzen entfernt werden, bevor man die Wunde reinigen und pflastern konnte. Ein Schauder durchfuhr ihre Knie, als wären es ihre Knie, ihr Blut.
Die Wunde war rot und feucht und etwas schwarz, mit brennenden hellroten Streifen kreuz und quer, als hätte jemand einen spitzen hellroten Buntstift genommen und auf seinem Knie herumgemalt, aber er brauchte wohl nicht genäht zu werden. Das brauchte sie damals auch nicht. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Bist du mit dem Fahrrad gestürzt? Hast du dir wehgetan?«
Der Junge weinte noch lauter und nickte energisch. Mille sah sich um, fragte sich, ob er allein war oder ob ihn jemand begleitet hatte, eine Mama oder ein Papa, die sich bald im Nebel offenbaren würden. Aber es war klar, dass er allein war. Sie nahm seine Hand und half ihm auf die Beine, nutzte den roten Schal, den Siri ihr geliehen hatte, um den Schmutz und die Tränen im Gesicht des Jungen wegzuwischen. Der Junge wurde ganz still.
»Wie heißt du?«, flüsterte sie.
Sie bekam Blutflecken auf ihren Schal. Das machte nichts, dachte sie. Sie würde Siri erzählen, dass es sich nicht um ihr Blut handele, dass sie nicht unachtsam gewesen sei, sondern einem kleinen Jungen geholfen habe, der mit seinem Fahrrad gestürzt war.
»Simen«, schniefte er. »Ich glaube, das Fahrrad ist kaputt, und ich habe kein Geld für ein neues.«
Er begann wieder zu weinen und lehnte zugleich vorsichtig den Kopf an sie. Mille ließ ihn eine Weile gewähren, bevor sie sich aus dem Griff löste und zu seinem Fahrrad ging, das mitten auf der Straße lag. Sie beugte sich darüber und untersuchte es. Das Fahrrad hatte den Sturz wunderbar überstanden, es war nur etwas schmutzig, aber nicht beschädigt.
»Es ist nicht kaputt«, sagte
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