Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
wie stets, Marie Evensen und ihr alberner kleiner Mann. Wer waren diese Menschen? Jedenfalls keine, mit denen Jenny ihre Zeit verbringen wollte. Würden diese Menschen zu ihrer Beerdigung kommen? Diejenigen von ihnen, die dann noch lebten? Jenny sah einige, die ganz bestimmt vor ihr das Zeitliche segnen würden, was sie mit einem gewissen Vergnügen registrierte. Dort waren Anni Berge und Lars Smith Eriksen, Louise Hansson und Arild Jonsson. Sie alle würden vor ihr ins Gras beißen. Garantiert. Sie fühlte sich in Topform. Und in diesem Zusammenhang fand Jenny die Idee nicht schlecht, sich bald auf dem Fest zu zeigen, mit ihren Gästen zu tanzen und vielleicht eine Rede zu halten. Ja, das würde sie tun. Ein paar Dinge wollte sie gern sagen. Jenny stolperte zum Bett und legte sich flach hin. Stift und Papier. Sie brauchte Stift und Papier. Irgendwo im Zimmer hatte sie Stift und Papier. Warum war es bloß so schwierig, Stift und Papier zu finden? Denn jetzt wollte sie eine Rede schreiben. Keine lange Rede. Eine kurze nur. Und so sollte sie anfangen:
nichts.
Jenny setzte sich auf und starrte in die Luft. So sollte sie anfangen:
nichts.
Wie wäre es mit:
Liebe Familie, liebe Freunde. Liebe Siri, die du dieses Fest für mich organisiert hast. Liebe Irma. Wir stehen hier im Nebel und fragen uns, ob es gleich regnen wird …
Ja, das war gut.
Noch ein Gläschen Wein, dann könnte sie den Rest der Rede spontan ergänzen. Sie konnte es aber auch lassen. Jenny legte sich wieder aufs Bett und schloss die Augen. Papier und Stift finden. Gleich. In Kürze.
S iri schloss die Haustür hinter sich, es wurde vollkommen still. Sie klappte in sich zusammen wie eine Theaterpuppe, eine Marionette (französisch für Klein-Marion, der Name der jungen Jungfrau Maria), sie legte sich auf den Boden, setzte sich wieder auf, denn, dachte sie, ich bin keine Puppentheaterpuppe, ich bin keine kleine Marion, keine kleine Maria, und ich steuere meine Bewegungen selbst, ich muss nur einen Moment hier sitzen bleiben und mich ausruhen, dann legte sie das Gesicht in beide Hände. Missglückt. Missglückt. Missglückt. Das ganze Fest, das draußen im Garten vonstattenging, ohne sie, ohne ihre Mutter – und wozu? Was hatte sie eigentlich aus ihrem Leben gemacht? Das lange hellblaue Seidenkleid, das sie von Jenny geerbt hatte, floss an ihrem Körper herunter und ergoss sich auf den Boden zu einem See um ihre Füße. Wie hübsch du bist , flüsterte Jon. Sie hatten sich draußen auf der Treppe aufgestellt, Siri, Jon, Alma, Liv, Mille und sogar Irma (die hünenhafte Irma, deren Gesicht Jon einmal mit dem Erzengel Uriel in einem Gemälde von Leonardo verglichen hatte), wie auf der Bühne hatten sie dort gestanden und die Gäste empfangen und willkommen geheißen. Wie hübsch du bist. Wie hübsch du bist. Und gleich darauf: Lass sie in Ruhe! So unvermittelt. So hart. Und nur weil sich Siri (ganz ruhig: sanft, leise, nachsichtig) zur Blume in Milles Haar geäußert hatte. Die Wiese hinter dem Haus war voller Wildblumen, die Mille für ihre Haare pflücken konnte. Dieses große, unbeholfene Kind, das mit all seiner Traurigkeit und Einsamkeit nach Mailund gekommen war, so unendlich traurig, so unendlich einsam. Siri holte tief Luft.
Lass sie in Ruhe!
So unvermittelt.
So hart.
Das weiße Beet war Siris ganzer Stolz in Mailund, schöner als der Kräutergarten, den sie ebenfalls angelegt hatte, inspiriert von Virginia Woolfs Freundin Vita Sackville-West.
»Hör zu, Jon, ich möchte dir gern etwas vorlesen. Willst du es hören?«
Sie wollte ihm von dem Buch erzählen, das sie gelesen hatte. Vom Mondscheingarten, den Vita Sackville-West im Traum gesehen hatte und den Siri in einem neuen Traum erblickt hatte. Aber Jon wollte nichts von anderen Büchern hören, ihn interessierten nur seine eigenen. (Es war lange her, seit zuletzt jemand über seine Bücher gesprochen hatte – und das war das eigentliche Problem, oder?) Und er interessierte sich nicht für Gärten, er hatte noch nie über Gärten geschrieben, weder weiße noch grüne, noch rote, und auch wenn sie gehört hatte, wie er sich über Virginia Woolf ausließ – etwas anämisch, findest du nicht? –, war sie nicht sicher, ob er sie wirklich gelesen hatte. Hin und wieder kam sie abends zu ihm ins Dachzimmer, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, er schlief immer öfter dort, irgendetwas zwischen ihnen war im Begriff zu zerbrechen, und sie konnte nicht sagen, was es war – und er sah so einsam
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