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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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deinem Kopf allmählich Haare wachsen, Augenbrauen und Wimpern, und sie sind ganz weiß.
    Jon fand das Tagebuch unter der Matratze und las es. Sie wusste, dass er es las. Er wusste, dass sie wusste, dass er es las. So lebten sie, schmerzhaft ineinander verwoben. (Siri hatte auch Tagebuch geschrieben, als sie mit Alma schwanger gewesen war, aber dieses Tagebuch bekam Jon nicht zu sehen. Er wusste nichts von seiner Existenz – und sie hatte es vor langer Zeit entsorgt. Das Schwarzbuch. Darin standen Dinge, die er niemals lesen durfte. Einmal hatte er gefragt: Hast du denn kein Tagebuch geschrieben, als du mit Alma schwanger warst? Und sie hatte gelächelt und so leichthin wie möglich geantwortet: Nein. Die Idee kam mir erst bei Liv.)
    Sie schwirrten beide im Revier des anderen herum und ließen sich nichts anmerken. Er sagte nie ein Wort. Sie sagte nie ein Wort. Vielleicht war dies auch eine Form von Kommunikation.
    Viele Jahre lang hatte Siri denselben Traum, von dem sie Jon später erzählte. Er verstand nicht, warum der Traum sie so sehr aufwühlte. Es heißt, ein Traum wirke sieben Stunden lang im Körper nach. Aber Jon konnte nicht verstehen, dass sie sieben Stunden lang auf ihn wütend war für etwas, das in seinen Ohren wie ein ganz trivialer Vorfall klang – der überdies ein Traum war. Ich meine, mein Gott, Siri, ich trage doch nicht die Verantwortung für deine Träume! Es war nicht seine Schuld, dass sie nachts zitternd erwachte, und es war nicht seine Schuld, dass sie träumte.
    Es war immer derselbe Traum, der Handlungsverlauf änderte sich nicht, er war monoton, banal und hatte nichts Ästhetisches an sich: Eines Tages erzählt Jon Siri, dass er für sechs Wochen nach Deutschland möchte, er will nach Hamburg, München, Dresden und Berlin reisen, er will Freunde und Bekannte treffen und vielleicht auch ein wenig arbeiten, das ist beschlossen, das ist endgültig, alle Flugtickets sind bestellt – und, nein, er will sie nicht dabeihaben. Siri versucht, ihn davon abzuhalten, und als er sich nicht überreden lässt, beginnt sie zu betteln, und als auch das nichts nützt, beginnt sie zu weinen und zu schreien und sich an ihn zu klammern, damit er nicht fährt, und schließlich wird sie von ihren eigenen Schreien geweckt.
    »Aber ich fahre doch gar nicht nach Deutschland. Das hast du geträumt«, sagt Jon. »Ich kenne niemanden in Deutschland.«
    »Deutschland ist doch gar nicht der Punkt«, sagt Siri. »Der Punkt ist, dass ich dich nicht erreiche! Das ist der Punkt. Dass du woanders bist.«
    »Ich kann mich nicht für einen Traum rechtfertigen! Ich fahre nicht nach Deutschland! Ich bin hier bei dir, ich liebe dich, ich will nirgendwohin.«
    »Ich weiß, dass du andere hast.«
    Jon wurde böse.
    »Nur weil du träumst, dass ich nach Deutschland fahre? Daraus schließt du, dass ich eine andere habe? Dass ich dich betrüge?« Er holte tief Luft. »Siri, ich ertrage deine Anschuldigungen nicht. Du musst damit aufhören.«
    »Ich beschuldige dich nicht, ich …«
    »Und noch eins«, fiel er ihr ins Wort. »Falls ich mir wider Erwarten doch vorstellen könnte, einmal nach Deutschland zu fahren oder irgendwo anders hin … nach Sandefjord, zum Beispiel, für ein paar Tage … um zu schreiben. Das ist doch kein Verbrechen.«
    Sie wollte wissen, mit wem er sprach und wem er schrieb. Sie wollte in den verschiedensten Tonlagen bei ihm sein. Von A bis Z bei ihm sein. Mails an Kollegen. Mails an die Verlagslektorin. Mails an zufällige Bekannte. Mails, die mit seiner Arbeit zu tun hatten – zum Beispiel seine Antwort auf die Anfrage, ob er in einem Café in Son aus Band eins und zwei lesen würde. Mails an alte Freunde. Sie wollte wissen, ob er andere Frauen hatte, und wenn ja, wer sie waren und was er mit ihnen machte. Aber sie fand nichts. Er löschte alles. Auch Unverdächtiges löschte er. Er wollte auf keinen Fall, dass sie – ja, was eigentlich fand? Wonach suchte sie?
    Siri sah hoch zur Treppe. Wie eine Klapperschlange wand sie sich durch das Haus. Das dachte Siri. Wie eine Klapperschlange. Sie hörte, dass Jenny oben in ihrem Zimmer rumorte. Siri stand auf und streckte sich, machte sich ganz lang, so dass der Knick in der Taille unter dem hellblauen Seidenkleid fast nicht mehr zu sehen war, und schrie aus vollem Halse (es war ihr egal, ob ihre Stimme schrill klang): »Du musst jetzt nach unten kommen, Mama! Das Fest ist in vollem Gange, und deine Gäste warten auf dich!«

D ünn und grau ging der Regen

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