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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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erforschten die Insel von Burgsvik bis Fårö, besichtigten die alten mittelalterlichen Steinkirchen. Die Kirche von Bunge und die von Lokrume, den Dom in Visby, die Kirche von Hörsne, die von Gothem mit dem hohen Turm, die von Follingbo mit den Deckenmalereien, die von Eskelhem und die von Hamra.
    »Du könntest ein Restaurant aufmachen, das nur im Sommer geöffnet hat, ich kann den dritten Band zu Ende schreiben und danach etwas anderes machen, wir verkaufen das Haus in Oslo und sind die Schulden los, wir kennen niemanden, brauchen uns mit niemandem abzugeben, wir sind ganz unter uns, du und ich, Alma und Liv, Leopold und die Liebe und das alles hier.« Er machte eine ausladende Armbewegung, zeigte auf die Umgebung, den niedrigen Himmel, das wechselnde Licht, die Äcker, die Wiesen auf Fårö, die an afrikanische Savannen erinnerten, die vierhundert Millionen Jahre alten Raukar, die Sanddünen, die Zementfabrik in Slite, das Geisterschiff in Norsholm.
    »Ein kleines Kalksteinhaus«, wiederholte er, »in Burgsvik, Hemse, Roma, Klintehamn, Katthammarsvik oder Fårö.«
    Siri lachte und schüttelte den Kopf. Du kannst nicht einfach an einen fremden Ort ziehen und denken, dass du dann, ja, dann dein Buch zu Ende schreiben wirst, dachte sie, sagte es aber nicht. Der letzte Band der Trilogie sollte schon im letzten Jahr fertig sein, aber es war nicht gut gelaufen, und er hatte erneut um eine Verschiebung gebeten. Er hatte mindestens zweihundertfünfzig Seiten verworfen und wollte wieder von vorn anfangen. Sie waren ausgestiegen, um sich die geisterhafte Landschaft anzuschauen, die sich auf dem Weg zur stillgelegten Kalksteinfabrik in Furillen vor ihnen geöffnet hatte.
    »Alma kann eine schwedische Schule besuchen, und Liv kann in den Kindergarten gehen«, fuhr er fort, »hier gibt es garantiert Kindergartenplätze, und beide können in den Wald rennen und über die Wiesen, können feuerroten Mohn pflücken und bis weit in den September hinein im Meer baden.«
    Siri strich ihm über den Kopf und sagte, das solle er in seinem Buch beschreiben. Alles. Das Kalksteinhaus, die Liebe und den Mohn.
    »Ich meine es ernst«, sagte er leise. »Ich rede über die Realität.«
    »Aber wir gehören hier nicht her, Jon«, sagte Siri. »Man kann nicht einfach alles hinter sich lassen und umziehen. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Ich will mit dir zusammen sein, ich will mit Alma und Liv zusammen sein, ich gehöre zu euch, nicht hierher. Diese Insel hat nichts mit uns zu tun. Das ist nur ein Traum.«
    »Warum soll man nicht einfach alles hinter sich lassen und anderswo neu anfangen können«, fragte Jon. »Warum nicht? Wo steht geschrieben, dass man das nicht kann?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Siri.
    Sie wurde ungeduldig, setzte sich wieder ins Auto.
    »Das kann man einfach nicht. End of story. «
    Aber Mailund war etwas anderes. Nicht die Stadt selbst, sie ähnelte vielen anderen Kleinstädten in Norwegen, sondern das Haus. Jennys große alte Holzvilla in dem großen Garten mit Obstbäumen und Beerensträuchern, mit Kräutergarten und weißem Beet, mit der Blumenwiese hinterm Haus und dem Wald dahinter.
    Hatte man erst die traurigen unpersönlichen Holzhäuser entlang der endlosen Straße hinter sich gelassen, erwies sich Mailund als Oase aus einer anderen Zeit, der Zeit der Spitzenkleider, der Zeit der Strohhüte, der Zeit der Knebelbärte, des Rheinweins und des Bocciaspiels. Dabei konnte das Haus bei herbstlichem Mondschein in nahezu unheimlichem Glanz erstrahlen, und bei Nebel konnte das Haus unnahbar wirken, als schwebte es einen Meter über der Erde. Es war ihr Elternhaus, und es war seit 1947 in Familienbesitz, als ihre Großeltern mit ihrer einzigen Tochter Jenny hierherkamen, die damals vierzehn war. Sie kamen aus Molde, um ein neues Leben zu beginnen.
    1940, als die Deutschen den Stadtkern bombardierten, wurde die Kurzwarenhandlung von Siris Großvater mütterlicherseits in Trümmer gelegt. Jenny erzählte nie von ihrer Kindheit, aber Siri wusste, dass ihr Großvater der Widerstandsbewegung angehört hatte und die Großmutter, ausgebildete Krankenschwester, 1937 bei der Gründung der Linken Frauenvereinigung Molde dabei gewesen war, und als Molde bombardiert wurde, engagierte sie sich in der Frauenarbeitshilfe. Beide starben jung, wenige Jahre vor Siris Geburt. Karen, Siris Großmutter, starb an einem Infarkt, und Henrik, Siris Großvater, nur wenige Wochen später an den Folgen einer Lungenentzündung. Siri

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