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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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zusammen, saß in der Diele auf dem Boden und sah sich um. Als wäre sie in Bereitschaft. Sie kam von der Schule nach Hause, schälte sich aus dem Ranzen, schloss die Tür und klappte in sich zusammen. Vielleicht stand sie nach einer Weile wieder auf (sie konnte selbst entscheiden, ob sie auf dem Fußboden liegen, aufstehen oder sitzen bleiben wollte). Sie lauschte. Das war das Entscheidende. Zu lauschen. Das Ticken der Standuhr in der Stube. Leises Rumoren im ersten Stock oder in der Küche. Wo war Jenny? War sie von der Arbeit nach Hause gekommen? War sie überhaupt bei der Arbeit gewesen? Was machte sie gerade? War sie wütend? Hatte sie getrunken? Wie sah heute das Normale aus? Das Ratespiel, das die Mutter mit ihr spielte. Wo sind wir heute? Wer sind wir heute? Was machen wir heute? Was sagen wir heute?
    Jeder Tag war anders, und darum brauchte Siri diesen Moment nach ihrer Rückkehr. Um zusammenzuklappen und in Bereitschaft zu sein. Um sich aufzulösen und zu verwandeln. Um stillzuliegen oder stillzusitzen oder stillzustehen und zu lauschen. Zu einem einzigen großen Ohr zu werden. Hörte sie ein Weinen? Ein Murmeln? Ein Pfeifen und Großreinemachen? War es ein Schnarchen? War es ein Seufzen?
    »Siri, bist du’s?«
    Und es war wichtig, den Tonfall zu deuten. Traurig konnte wütend bedeuten und wütend traurig, und fröhlich bedeutete nicht zwangsläufig fröhlich, und Liebe bedeutete … nein, das konnte man nicht sagen.
    »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Siri«, sagte die Mutter manchmal, »ich mache dir keine Vorwürfe, das tue ich nicht, ich vermisse ihn nur so sehr.«
    Das Trinken nahm zu, als Siri und Jenny nach Oslo zogen, in die kleine Wohnung in Majorstua, und Siri in die Mittelstufe kam, doch dann, als Siri siebzehn war, hörte Jenny plötzlich und entschlossen auf.
    Siri hielt das Ohr an die Haustür.
    Die Stimmen, die Musik, die klirrenden Gläser, die Teller, das Besteck, die flatternden Tischdecken (sie hatte sie auf die Tische gelegt und wieder hereingeholt und wieder auf die Tische gelegt), Gesprächsfetzen, habt ihr das Geburtstagskind schon gesehen, nein, ich auch nicht , all die verschiedenen Arten der Menschen zu lachen, wenn sie sich auf einem Fest versammeln, laut und leise, dröhnend, kreischend, herzlich, flirtend, prahlerisch, verzweifelt, falsch, kichernd, berechnend, fragend, aber auch all die Geräusche jenseits des Fests, die die Gäste nicht hören: der Wind, das Rauschen der Baumwipfel, die ersten Regentropfen, ich glaube nicht, dass es regnen wird. Es ist zwar Regen vorhergesagt, aber man kann sich auf den Wetterbericht nicht verlassen .
    Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Treppe hinaufzulaufen und an Jennys Tür zu klopfen, an Jennys Tür zu hämmern und zu sagen, dass sie jetzt wirklich nach unten kommen müsse, es sei an der Zeit, die Gäste mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Sie hatte vorgehabt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Aber Siri saß immer noch auf dem Fußboden in der Diele und starrte auf die Treppe. Sie sagte: Steh auf und geh zu ihr. Sie blieb sitzen. Dann sagte sie: Ich bleibe noch einen Moment hier sitzen. Ich entscheide selbst, ob ich bleibe oder gehe.
    Sie konnte nicht sagen, was es war. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas war schiefgelaufen. Darum schlich sie zum Dachboden, klappte Jons Laptop auf und wieder zu. Sie wollte einfach wissen, ob er an seinem Buch schrieb und nicht bloß wie ein Wahnsinniger auf der Tastatur herumhämmerte – all work and no play makes Jon a dull boy –, und manchmal schrieb er tatsächlich an seinem Buch, und wenn sie hin und wieder las, was er geschrieben hatte, hatte sie das Gefühl, er schrieb für sie.
    Siri war sich sicher, er wusste, dass sie in seinem Revier herumschwirrte, wenn er nicht da war. Und sie war sich ziemlich sicher, dass er das Gleiche tat. Ihre E-Mails checkte. Ihr Handy checkte. Als sie mit Liv schwanger war, schrieb sie Tagebuch und dokumentierte jeden Monat, jede Woche, jeden Tag. Ich bin jetzt am Ende des fünften Monats, du bist fast 30 cm lang, ich könnte dich in ein Puppenbett legen, mir ist immer noch übel, aber ich spüre, dass du dich in mir bewegst, und dann lege ich die Hand auf meinen Bauch und freue mich, ich weiß, dass du ein Mädchen bist, ich weiß, dass dein Körper von einem sanften Flaum bedeckt ist, als wärst du ein Vögelchen, ich weiß, dass dein Papa und ich dich lieb haben, und nicht nur wir, sondern auch deine große Schwester, die Alma heißt, ich weiß, dass auf

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