Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
nieder, der Wind blies stärker, zerrte und riss an Milles rotem Regenschirm. Keiner konnte sagen, wann genau sie das Fest verlassen hatte und zu den Anlegern gegangen war. Vielleicht fanden dort andere Partys statt. Der Kai war in Nebel gehüllt. Mille kaufte sich am Kiosk eine Wurst, kleckerte Ketchup auf das rote Kleid und stöhnte leise. Ein junger Blondschopf drehte sich um, sah Mille an und lächelte.
»Cooler Regenschirm.«
Mille lächelte zurück. »Vielen Dank. Aber ich habe mein Kleid bekleckert. Siehst du das?«
Der Junge, den seine Freunde KB nannten, zog die Schultern hoch und hob die Hände. »Ist ja nicht gerade sommerlich, was?«
»Ich hatte vor ein paar Wochen Geburtstag«, sagte Mille, die den Jungen sympathisch fand. »Ich bin neunzehn geworden und will ein neues Leben beginnen.«
»Okay. Cool. Wie alt bist du?«
»Neunzehn«, wiederholte Mille.
»Schade mit dem Wetter. Ach ja, herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.« Mille starrte den Jungen an. »Aber es ist doch schon ein paar Wochen her.«
Der Junge redete weiter: »Okay, vielleicht sehen wir uns später noch. Ich gehe ins Bellini, will ein paar Leute treffen. Warst du schon mal im Bellini?«
Mille schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sehen wir uns dort. Mach’s gut.«
»Mach’s gut.« Mille lächelte. »Vielleicht sehen wir uns.«
I ch gehe jetzt«, sagte Jon. Er spürte Regentropfen an den Fingerspitzen, machte sich um das Fest aber keine Sorgen. Sollte es anfangen zu regnen, konnten sich alle unter den Segeltüchern sammeln, die er im Garten aufgespannt hatte.
»Sie gehen?« Der bebrillte Literaturprofessor, der irgendwann Mitte des letzten Jahrhunderts Jennys Geliebter gewesen war oder auch nicht, sah Jon erschrocken an.
»Sie können doch jetzt nicht gehen?«
»Doch, das kann ich«, sagte Jon.
»Aber die Jubilarin ist doch noch gar nicht gekommen.«
»Daran kann ich leider nichts ändern«, sagte Jon.
Der Mann, mit dem Jon sich unterhalten hatte, hieß Hansén und hatte die schlechte Angewohnheit, den Kopf in den Nacken zu werfen und laut zu lachen, sobald er glaubte, etwas Witziges gesagt zu haben. Er schrieb Buchkritiken für die Bergens Tidende und war bekannt dafür, dass er einmal einen obskuren amerikanischen Essay über William Faulkner verfasst hatte, der ein Plagiat gewesen war. Er hatte einen dicken Bauch, eine große Nase und einen kräftigen Bart. Jon hatte den Bart genau studiert, während er eine Ewigkeit lang Hanséns Ausführungen gelauscht hatte, was in Band eins und zwei seiner Trilogie missglückt sei ( ist es nicht so, Dreyer, dass Sie einen Zusammenhang postulieren, der im Text nicht angelegt ist? ), und er hatte zu seiner Begeisterung festgestellt, dass in der weichen behaarten Mulde zwischen Hanséns Unterlippe und Kinn ein Marienkäferchen wohnte.
»Haben Sie vielen Dank für das Gespräch«, sagte Jon und nahm den Blick von dem Marienkäferchen.
»Wir können es vielleicht ein andermal fortsetzen, nicht?«, sagte Hansén.
Jon lächelte weder ablehnend noch zustimmend. »Mein Hund Leopold«, sagte er, »der die inneren Organe von Tieren frisst – ein belesener Mann wie Sie sieht den Zusammenhang doch? –, braucht seinen abendlichen Auslauf.«
Hansén nickte kurz, drehte sich um und ging weiter. Jon hielt nach Karoline Ausschau. Kurt und sie standen ein Stück entfernt und sprachen mit Steve Knightley. Karoline spürte seinen Blick und machte eine kleine Handbewegung, die er nicht zu deuten vermochte. Ein Winken, vielleicht, oder eine Liebkosung. Er lächelte ihr zu und zog los, um Siri zu suchen. Sie unterhielt sich mit einer Tante, die kürzlich an der Hüfte operiert worden war, Siri lauschte und nickte, war voller Mitleid und von blendender Schönheit und etwas abwesend in dem hellblauen Seidenkleid, mit ihren dunklen Haaren. Jon ging auf sie zu und legte den Arm um sie. Er küsste sie auf die Wange, flüsterte ihr ins Ohr: »Wo ist Jenny?«
Siri lächelte und nickte (nach außen hin schenkte sie ihrer Tante die volle Aufmerksamkeit) und flüsterte zurück: »In ihrem Zimmer, stockbesoffen.«
Jon drückte ihre Hand, sie waren bisher nicht dazu gekommen, hatten noch nicht über Jenny gesprochen, die in ihrem Zimmer saß und trank, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick. Jon setzte sein charmantestes Lächeln auf und stellte der hüftoperierten alten Tante eine oder zwei hüftrelevante Fragen, bevor er sich entschuldigte und ging.
»Unser Hund braucht seinen abendlichen Auslauf«,
Weitere Kostenlose Bücher