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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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sagte er. »Er ist in meinem Arbeitszimmer eingesperrt …«
    Die Tante nickte verständnisvoll, aber Siri warf ihm einen fragenden Blick zu.
    »Gehst du schon wieder mit dem Hund los?«
    »Leopold …«, sagte Jon. »Keine Ahnung, ich war gerade oben, und er kam mir ziemlich unruhig vor. Ich bin in zwanzig Minuten zurück.« Siri nickte und wendete sich ab.
    Jon machte die Tür auf und ging ins Haus, dort war es ohrenbetäubend still. Er rannte die Treppe hinauf und holte Leopold aus dem Dachzimmer. »Wir gehen Gassi, Leopold. Komm schon«, murmelte er. »Wir schleichen uns hinten raus.« Er kraulte Leopold hinter dem Ohr, und Leopold tänzelte, wedelte mit dem Schwanz und zog ihn die Treppe hinunter.
    Draußen auf der Straße war es wesentlich dunkler, als die Jahreszeit erwarten ließ. Er beschloss, zum Strand zu gehen, sich vielleicht am Kiosk eine Wurst und im Konsum ein paar Flaschen Bier zu holen und den Blick aufs Meer zu genießen. Er sah auf die Uhr, der Laden war bis acht geöffnet. Er verabscheute Veranstaltungen wie dieses Fest. Er hasste die Menschen, die Masken, die Konversation, das falsche Lächeln. Er hasste es zu sehen, wie Siri sich verwandelte, zur perfekten Gastgeberin wurde, die durch den Garten zog und mit allen und jedem lachte. Was gab es hier zu lachen? Das Ganze war beschissen. Es war eine einzige Lüge. Einmal hatte er versucht, es anzusprechen. Ihre Verlogenheit, wenn sie mit anderen Menschen zusammen waren. Daraufhin hatte sie gelacht und gesagt: »Meine Verlogenheit, Jon? Meine Verlogenheit?«
    Er versuchte zum Ausdruck zu bringen, dass er es hasste, wenn sie Theater spielte.
    »Ich werde dann ganz unsicher«, sagte er, »wenn du dich so überaus freundlich, teilnahmsvoll, charmant und witzig gibst.«
    »Du hasst es, wenn ich freundlich, teilnahmsvoll, charmant und witzig bin?«
    Er nickte.
    »Bin ich dir deprimiert und zornig lieber?«
    »Du verstehst schon, wie ich es meine.«
    »Nein, Jon, ich verstehe nicht, wie du es meinst.«
    Er wollte die echte Siri haben, das meinte er. Die nackte Siri. Die Siri mit dem Knick in der Taille, den er streicheln konnte. Nicht die Siri mit dem raschen und berechnenden Blick; nicht die Siri mit den winzigen unzufriedenen Fältchen um den Mund; nicht die Siri, deren jede noch so kleine hübsche Bewegung von einer Choreographie der Enttäuschung und Verachtung zeugte. Aber egal, welche Worte er wählte, er konnte es ihr nicht vermitteln. Das war ihm klar.
    Eine Wurst mit Brot und weiteren Zugaben und ein paar Bierchen. Eine halbe Stunde am Strand. Mehr nicht.
    »Nur du und ich, Leopold, okay?«
    Sein Handy piepte. Es steckte in der Innentasche seiner Anzugjacke. Er zog es heraus und las die Nachricht.
    Warum ausgerechnet Sweetheart like you?
    Er seufzte und dachte darüber nach, dass er aus der Nummer wieder herauskommen musste. Die kleine neunzehnjährige Mille. Er konnte nicht … Jon steckte das Handy zurück in die Tasche. Leopold zog an der Leine und gab ihm zu verstehen, dass er hier am Strand gern frei herumlaufen würde. Jon holte das Handy wieder heraus. Er las die Nachricht, die er gerade bekommen hatte, noch einmal. Schließlich schrieb er:
    Liebe Mille. Ich weiß nicht genau, warum ich bei dem Lied an dich denken musste. Hat mit dem Titel zu tun. Sweet. Sweet like you. Sweetheart you. Irgendwie so. J.
    Die Antwort kam prompt.
    Ich schlendere heute Abend ein bisschen durch die Straßen, nur für den Fall, dass Sie das Fest verlassen und ein Glas Wein mit mir trinken wollen, zum Beispiel im Bellini.
    Jon band Leopold an einen Pfosten vor dem Laden und ging hinein. Er schnappte sich ein Sixpack und schrieb:
    Ein andermal vielleicht, Mille? Heute ist meine Anwesenheit anderswo gefordert. Bis morgen. J.

J enny war auf dem Bett eingenickt, wurde aber von Siris Rufen geweckt. Sie schlug die Augen auf und stöhnte leise. Ihr Kopf pochte. Siri. Die kleine Siri. Jenny erinnerte sich daran, wie ihre Tochter abends in diesem Zimmer stand und ihr die Haare bürstete und sagte, beug dich vor, Mama , woraufhin sie sich so weit vorbeugte, dass sich die Haare bis zum Boden ergossen, und Siri bürstete los. Eins. Zwei. Drei. Vier. Ja, hundert Bürstenstriche mussten es sein, sonst konnte man es vergessen. Fünf. Sechs. Sieben. Und Jenny wusste noch, dass ihr der Rücken wehtat, wenn sie so vorgebeugt dastand, dass es aber absolut notwendig war, Siri zu Ende bürsten zu lassen. Acht. Neun. Zehn. Elf. Und wie sie versuchte, an etwas anderes zu denken als an

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