Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
hatte ein Schwarzweißfoto von ihnen in der Nachttischschublade, das sie sich ab und zu anschaute, es war das Verlobungsbild vom 29. September 1915, Henrik schaute genau in die Kamera, Karen blickte weg. Keiner von ihnen lächelte. Siri hatte immer gefunden, dass sie einsam wirkten, feierlich, dass ihnen bewusst war, was sie erwartete. Hin und wieder strich sie vorsichtig mit dem Finger über ihre Gesichter, Henriks strenger Mund und Karens schwarzer Blick; was davon fand sich in ihr? Sie hatten Jenny gehabt, dieses Haus hier, den neuen Laden im Zentrum, das Damen-Kaufhaus, das zwar nicht so prächtig war wie das Geschäftshaus, das Henrik in Molde aufgebaut hatte, das aber für die Qualität seiner Waren bekannt war. Heute war das Damen-Kaufhaus verschwunden und von einer Kleiderkette ersetzt worden.
Siri kannte das Haus in- und auswendig, jede Stube, jedes Schlafzimmer in den oberen Etagen, jeden Zentimeter der großen Küche (sie konnte blind darin kochen), jedes Fenster, jede Türschwelle, jede Wand und jede Holzplanke in jeder Etage, sie konnte jederzeit die verschiedenen Geräusche eines jeden Zimmers und einer jeden Treppenstufe abrufen, kannte den bläulichen Mondschein, der die Möbel und Nippsachen in der guten Stube liebkoste oder über ihr großes Bett in dem viel zu großen Schlafzimmer im zweiten Stock wanderte in all den Nächten, in denen sie keinen Schlaf fand. Und die Treppe natürlich. Einmal träumte Siri von der Treppe in Mailund, das Haus war weg, der Garten war weg, die Blumenwiese und der Wald waren weg, die Straße, die sich vom Ort heraufschlängelte, war weg, Jenny war weg, Irma war weg, das Einzige, was von Mailund noch stand, war die Treppe, prachtvoll und unnahbar, umgeben von deplatzierten ausgebombten Wohnblocks als Kulissen, die für Warschau oder Berlin nach dem Krieg stehen mochten oder für Sarajevo, es schneite unablässig, und Siri und Jon und Alma und Liv rannten die Treppe hinauf, drängten sich zusammen, klammerten sich aneinander, auf dem Weg nach oben und nach oben, nach unten und nach unten, nach oben und nach oben, nach unten und nach unten, aber im Traum kamen sie weder oben noch unten an, sie rannten einfach immer weiter, und wenige Jahre später sah sie eine ähnliche Szene in Ariane Mnouchkines Film über Molière. Molière bricht auf der Bühne zusammen und wird durch die Winternacht nach Hause getragen, Nase und Mund sind voller Blut, das restliche Gesicht ist eine Mischung aus Weiß und Schwarz – Reste der Theaterschminke –, und dann verändert sich das Gesicht. Es wird zu einem Tiergesicht, dem Gesicht eines verletzten Bären, bis es zerfließt, Molières Gesicht zerfließt und löst sich auf im Tod, und das, was Molières Blick ausgemacht hatte, wird zu zwei klaren, erschrockenen Tieraugen, die alles sehen, was kommt, und alles, was gewesen ist, und die Theatertruppe trägt ihn, stützt ihn, klammert sich an ihn und rennt diese endlosen Treppen hinauf, ohne anzukommen, denn jetzt hat der Tod sie eingeholt, der Tod hat sie angehalten, der Tod hält sie zurück, sie kommen nicht mehr an im Leben des sterbenden Molière, sie springen, sie kämpfen, sie eilen vorwärts, aber sie kommen nicht vom Fleck, und überall ist Winter, und das mächtige, zitternde, fröstelnde, kalte Lied aus dem siebzehnten Jahrhundert legt sich über alle: Let me, let me, let me, let me freeze again … , und dann verschwinden alle und alles, zuerst Molières Gesicht und dann die anderen, einer nach dem anderen, bis nur noch die Treppe, die endlose Treppe übrig ist.
Aber genug war genug. Jetzt hatte sie lange genug hier im Gang – in der Diele! – gesessen. Sie brauchte bloß hinaufzugehen und sie zu holen, Jenny zu holen, betrunken oder nüchtern, tot oder lebendig, Liebe oder nicht Liebe, erster Stock, erste Tür links, sie mit sich ziehen, nach unten und in den Garten, um sich tretend und schreiend, sie brauchte es bloß zu tun.
Nein, einen Moment noch. Etwas stimmte nicht. Siri stützte den Kopf in die Hände.
Sie hatten sich frühmorgens von dem Haus in Slite und von Sofia verabschiedet. Siri sah Sofia nie wieder. Sie starb ein Jahr später still und leise in ihrer Zweizimmerwohnung. Siri wollte mit dem Flugzeug nach Hause, Jon und Leopold fuhren mit dem Auto und wollten in Örebro übernachten. Jon fuhr gern weite Strecken allein, und sie konnten Emma ohnehin nicht guten Gewissens einen weiteren Tag mit den Kindern zumuten.
Als Siri klein war, klappte sie häufig in sich
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