Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
ihre gebeugte Haltung und die Rückenschmerzen, die sie davon bekam, zum Beispiel an Bücher, die sie gelesen hatte, an Männer, die sie zum Lachen gebracht hatten, an die USA -Reise, von der sie geträumt hatte, aus der aber nie etwas geworden war, an Bo Anders Wallin, der abgehauen und mit dieser schwedischen Nutte zusammengezogen war, nein, daran nicht, denk an was Angenehmes , alles, nur damit sie vergaß, dass sie so vorgebeugt dastand und immer mehr Rückenschmerzen bekam. Vierundvierzig. Fünfundvierzig. Sechsundvierzig. Dass sie immer noch jung und hübsch war, na ja, nicht mehr ganz so jung, vielleicht, auf der falschen Seite der Dreißig , wie Jane Austen gesagt hätte, aber hübsch, daran gab es keinen Zweifel. Ihre eigene Mutter war ziemlich hübsch gewesen und doch viel mutiger als Jenny, trotz allem. Sie dachte an den klaren Blick der Mutter, als der Deutsche den Kopf senkte und sagte, Krieg ist ein Jammer , und daran, dass sie hin und wieder die Stimme ihres Vaters hörte und das Rascheln von Mutters Kleid auf der Treppe hier in Mailund. Siebenundsechzig. Achtundsechzig. Neunundsechzig. Siebzig. Und wie sich alle Gedanken einfach miteinander verwoben und zu einem einzigen Gedanken wurden, dem einzigen, ewigen, unausweichlichen Gedanken. Vierundachtzig. Syver. Alle Gedanken mündeten in Syver. Einundneunzig. Warum hatte sie die Kinder allein nach draußen geschickt? Warum hatte sie darauf bestanden, dass sie draußen spielten? Sie hatten ja an die Tür geklopft und wollten herein, aber sie brauchte ein bisschen Zeit für sich allein, sie brauchte Ruhe, es gab viel zu tun mit zwei kleinen Kindern, wenn man sich die ganze Zeit danach sehnte, die eigenen Fähigkeiten für etwas anderes zu nutzen, sie erinnerte sich, wie sie sich darauf gefreut hatte, dass beide Kinder irgendwann groß genug wären, um in die Schule zu gehen, und sie wieder anfangen könnte zu arbeiten, und sie sagte zu ihnen, hier im Haus gibt es eine Drinnenzeit und eine Draußenzeit, und jetzt ist Draußenzeit, kommt um zwei Uhr wieder. Der arglose Blick. Die graue Mütze. Die schmalen, zierlichen Hände und die langen Finger. Der weiche Körper. Die helle Stimme. Der Wirbel im Haar, der zur Folge hatte, dass ein Teil des Ponys immer abstand. Nein, es war nicht möglich, mit allem abzuschließen, auch wenn das Leben ohne ihn ein Leben ohne Licht und Geräusche, ohne Geschmack und Geruch und Berührungen war und immer sein würde und immer noch war, es stimmte nicht, dass die Trauer und der Verlust mit der Zeit leichter wurden, dass sich die Zeit zu ihren Gunsten auswirkte, was absolut alle damals zu ihr gesagt hatten, sie hatten regelrecht darum konkurriert, es ihr zu sagen, und jedes Mal, wenn jemand es sagte, hätte sie am liebsten zugeschlagen, hätte am liebsten geschrien und gebrüllt, als ob irgendjemand über die Zeit Bescheid wüsste, verdammt, aber sie konnte damit nicht abschließen, sie hatte noch ein Kind, sie konnte nicht … Hundert!, rief Siri. Und sobald Siri Hundert rief, richtete Jenny sich auf, warf die Haare nach hinten und ließ sie um sie beide fallen, denn das war für Siri das Schönste auf der Welt.
Jenny begegnete im Spiegel ihrem eigenen Blick. Die Bürste lag auf dem Nachttisch zusammen mit ein paar Haarspangen und der Parfümflasche. Sie steckte die Haare hoch, trug Lippenstift auf und erhob sich. Sie wankte ein wenig. Das schwarze Kleid saß perfekt über dem Busen, spannte aber leicht am Bauch. Den könnte sie natürlich einziehen. Die Schönheit einer Frau lag in ihrer Haltung. Wären die Kopfschmerzen nicht, könnte der Abend vielleicht sogar erträglich sein. Den Rotwein hatte sie ausgetrunken. Sie hatte keine andere Wahl, als die Füße in die Sandalen zu zwängen und die Treppe hinunterzugehen, hinaus in den Garten, und alle Gäste zu begrüßen. Im Garten gab es nämlich mehr Wein. Es gab Wein in Hülle und Fülle. Wein im Überfluss. Hier im Zimmer war alles leer. Ja, genau! Alles leer! Und sie hatte niemals nie gesagt. Sie hatte eins nach dem anderen gesagt. Sie fragte sich, was wohl Irma davon halten würde, dass sie wieder angefangen hatte zu trinken. Es war nämlich kein einmaliger Ausrutscher. Es war nicht so, dass sie schwach geworden wäre, wie es heutzutage so schön hieß. Es war ein ganz bewusster Akt gewesen. Eine Entscheidung. Sie war eine Person gewesen, die nicht trank. Jetzt war sie eine Person, die trank.
Jenny nahm das Blatt Papier, auf dem sie die Rede notiert hatte.
Liebe
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