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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Schlittschuh laufen kann , und sie wusste noch, wie das Mädchen in dem schwarzen Mantel, das immer auf der Eisbahn war, wenn der Vater und sie kamen, das hübscher war als alle anderen, ihren Knöchel in die Hand nahm und das Bein zu sich heranzog. Und wie sich der schwarze Mantel fügte, wie das Skelett, das Schneetreiben und das Universum sich fügten. Ja, wie sich alles fügte. Und Mille erinnerte sich, wie das Mädchen herumwirbelte, schneller und schneller, und sich in eine Rauchsäule verwandelte, und sie erinnerte sich, dass sie damals dachte, wenn sie jetzt nur die Augen schloss, bis drei zählte und sie wieder aufmachte, würde auch die Zeit davonwirbeln, und das Mädchen hätte sich in der Pirouette aufgelöst.

IV
Augensterne

J on sitzt in seinem Arbeitszimmer in Oslo und schreibt. Mit Mille ist der Sommer verschwunden, es ist Herbst, der Erscheinungstermin des Buchs ist noch einmal verschoben worden, morgens und nachts ist es kalt, aber heute scheint die Sonne, ist die Luft mitten am Tag glasklar und eher warm. Er sollte unbedingt den Hund ausführen, aber er muss schreiben, er muss fertig werden, Gerda und er haben sich auf eine Veröffentlichung im Frühjahr geeinigt, nicht zum ersten Mal, sie hatten sich auch früher schon geeinigt: auf Frühjahr, Herbst, Frühjahr, Herbst. Er hat Angst davor, dass sie ihn aufgegeben hat. Er hat Angst davor, dass er aufgegeben hat. Er muss schreiben, er muss fertig werden.
    Leopold hebt den Kopf und sieht ihn an. Er schreibt ja gar nicht. Und bald wird er die Stirn auf die Tastatur legen und weinen.
    Sein Arbeitszimmer in Oslo ist ein Dachzimmer, genau wie in Mailund, teilweise renoviert, die Wände sind weiß gestrichen, und in der Dachschräge wurde ein Fenster mit Isolierglas eingesetzt, damit er hinausschauen kann. Im Moment scheint die Sonne herein, blendet ihn gnadenlos. In dem Zimmer steht ein Schreibtisch, auf dem Boden liegt eine Matratze. Jon starrt aus dem Fenster, das hoch zum Himmel zeigt und hinunter zur Auffahrt, muss aber wegen der Sonne die Augen schließen. Er kann hier nicht sitzen, steht auf, streicht mit dem Finger über die CD -Sammlung im Regal an der Längswand und sucht nach etwas, das er gern hören würde, findet aber nicht, was er sucht, und setzt sich wieder, hat die Sonne im Gesicht (sie hatten Regen gemeldet!), nimmt die graue Decke, die dem Hund gehört, zieht sie unter seinen langen schwarzen Vorderpfoten heraus, woraufhin der Hund aufstehen muss, ein wenig wackelt und sich schüttelt, und Jon hängt die Decke über die alte Vorhangstange, so dass sie das ganze Fenster bedeckt. So! Jetzt ist es dunkel! Niemals wird er dieses Buch zu Ende schreiben. Der Hund legt sich vorsichtig auf den Boden, die Schnauze an Jons Füßen, diesmal ohne Decke. Niemals!
    Jon und Siri lebten weiterhin von den Einnahmen aus dem Restaurant in Oslo (und von einem sehr hohen Bankkredit sowie einem Vorschuss seitens des Verlags), während sie darauf warteten, dass Jon den dritten Band dessen, was vor vielen Jahren (auf der Grundlage der zwei bereits verfassten und erschienenen Bände) die »große Trilogie der Jahrtausendwende« und »das wichtigste Romanprojekt dieses Jahrzehnts über das neue Norwegen« genannt worden war, zu Ende schrieb. Die Erwartungen an Band drei waren erdrückend, in Band drei müsse er »liefern«, meinten die Literaturkritiker. Jon hatte bereits vor fünf Jahren das fertige Manuskript vorlegen sollen, aber nein, die Tage vergingen, und plötzlich sprach niemand mehr von der Jahrtausendwende oder von Jon und seiner Romantrilogie (man sprach über andere Autoren und andere Romane), und jetzt war der Erscheinungstermin erneut verschoben worden, und er selbst war schon über fünfzig, hatte ein leicht eingefallenes, trockenpflaumenartiges Gesicht, das ihm jeden Tag im Spiegel entgegenblickte, und einen nicht gerade kleinen Wanst, der an seinem ansonsten schlanken Körper hervorstach oder vielmehr herunterhing, und die hübschen jungen Mütter, denen er jeden Morgen begegnete, wenn er Liv zum Kindergarten brachte, sahen geradewegs durch ihn hindurch.
    Jeden Donnerstagabend traf sich Jon zusammen mit seinem Freund, dem Zahnarzt Kurt Mandl, zum Joggen. Einmal, zweimal, dreimal liefen sie um den Sognsvann, und wer war wohl schon nach der ersten Runde außer Atem, kämpfte gegen eine beschlagene Brille und sagte immer häufiger ab?
    »Wir werden nicht jünger, Jon!«, rief Kurt Mandl Jon zu, der unweigerlich zurückfiel, schwer atmend,

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