Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Siri in sein Arbeitszimmer kommen und ihn anstarren, bis er aufwachte, und Dinge sagen wie: Der Schriftsteller bei der Arbeit, wie ich sehe , bevor sie ihm den Rücken zukehrte und das Zimmer verließ. Aber jetzt war er allein, und er musste über sein Buch nachdenken, nicht hier sitzen und die Zeit vertrödeln, und Denken konnte man am besten im Liegen. Sie lachte. Siri lachte, sie lachte über ihn. Geräusche im Haus. Das Tapsen, Seufzen, Singen, Siris Lachen. Ach ja, es war, als würden sie sich ständig unterhalten, für alle Ewigkeit unauflöslich ineinander verwoben, er war sich sicher, dass sie ebenso empfand, dass sie ständig mit ihm sprach und seine Stimme hörte, auch wenn sie sich gar nicht mehr so oft miteinander unterhielten, auch wenn es zwischen ihnen fast still geworden war, doch das Echo ihrer Stimmen in den Wänden, von Zimmer zu Zimmer, von Seele zu Seele, hin und her, ihr Lachen mit den vielen Nuancen, die zu deuten er geübt war, hörte nicht auf.
» Denken geht am besten vor dem Computer oder bei einem Spaziergang – flotter Gang, Jon! –, Denken geht am besten, wenn man am wenigsten damit rechnet, dass man denken soll, zum Beispiel beim Aufräumen oder Kochen oder abendlichen Vorlesen für Liv. Aber nicht auf dem Sofa liegend. Du legst dich nicht hin, um zu denken. Das kannst du mir nicht weismachen.«
Es dauerte nur wenige Sekunden. Er legte sich aufs Sofa, den Kopf aufs Kissen, und schlief ein.
Jon sprach nicht über seine Eltern und schrieb auch nicht über sie. Sie waren mittlerweile tot. Ihre Zeit auf Erden war vorbei. Er vermisste sie nicht. Er war als Siebzehnjähriger zu Hause ausgezogen, in eine Wohnung im Stadtteil Grønland, bevor dort alles abgerissen und wieder aufgebaut wurde; sein Vater saß auf dem Sessel in der Stube und las, hob nicht den Kopf, als Jon – groß und hager und unter der Last eines Rucksacks, eines Koffers voller Bücher und Schallplatten und einer Gitarre – tschüs , ich gehe jetzt rief. Seine Mutter lag im Schlafzimmer, die Vorhänge waren zugezogen, er wusste noch, dass draußen die Sommersonne schien, die bestimmt versuchte, den schweren blauen Vorhangstoff zu durchdringen und die Mutter mit ihrem Licht zu durchbohren, wusste, wie das Licht ihre Schmerzen noch verstärkte und sich in dem Moment alles in ihm zusammenzog, dass er es aber nicht konnte, dass er nicht zu ihr hineingehen und sie umarmen wollte, ihr über die Stirn streichen, er konnte ihr nicht versprechen, dass er oft zu Besuch käme, dass er mit ihr und Vater essen, ihr kalte Waschlappen auf die Stirn legen würde, er war noch so jung, dass er es unter seiner Würde fand, eine solche Form tröstlicher Verlogenheit an den Tag zu legen. Nie mehr lügen! Von jetzt an sagen, was Sache ist! Die Wahrheit mochte verletzend sein, aber er konnte sich nicht aus Rücksicht auf das Gefühlsleben Einzelner davon abhalten lassen. Er wollte voll und ganz er selbst sein, seine Musik hören (Neil Young, Steve Harley & Cockney Rebel, Dylan, The Band), mit Schuhen durch die Wohnung trampeln, mitten in der Nacht laut losbrüllen. Jon konnte sich noch gut erinnern, wie ihm die warme Brise die Haare zerzauste, als er die Tür hinter sich schloss und zur Straßenbahn ging, die ihn zu seinem neuen Leben als erwachsener Mann, Student, Mitarbeiter in einer Buchhandlung und Untermieter in Grønland bringen sollte. Und er erinnerte sich an die Nachmittagssonne, die ihm ins Gesicht schien. Und die Freude darüber, den dunklen Schlafzimmervorhängen entkommen zu sein, jung zu sein, die Freude über seine Fähigkeit zur Herzlosigkeit, die, wie er mittlerweile begriffen hatte, der Schlüssel zur Freiheit gewesen war. Dass er nicht auf der Türschwelle kehrtgemacht hatte, zu ihr hineingerannt war, sich neben sie ins Bett gelegt und geflüstert hatte, es geht vorbei, es geht immer vorbei . Dass er das schlechte Gewissen nicht über die warme Brise, die Sonne, die Freude siegen ließ. Eine schwindlige, überschäumende, befreiende Herzlosigkeit! Und er blieb standhaft. Er kehrte nicht mehr nach Frogner zurück. Er hatte kein Telefon, und die kurzen Briefe der Mutter ließ er unbeantwortet. Er war zwanzig, als sein Vater an einem Lungenemphysem starb. Seine Mutter – Celine hieß sie – erschien an seiner Tür in Grønland und sagte, sie würde nicht eher gehen, bis er sie hereinließ, also ließ er sie herein. Sie war noch nie in seinem Zimmer gewesen, schaute sich aber nicht um, sondern setzte sich sofort auf einen
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