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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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ignorierte sie, setzte sich zu Steve Knightley und fragte laut und vernehmlich, wie es derzeit in Seattle aussehe. Ob er noch mit seiner vierten Frau verheiratet sei, der mit den dünnen Lippen? Und als sich die letzten Gäste verabschiedet hatten und Jenny zu Bett ging und Alma zu Bett ging und Siri zu Bett ging, setzte sich Jon ans Ende eines Biertischs und trank Rotwein.
    Schließlich stand er auf und wankte zu dem Nebengebäude, in dem Mille wohnte. Um nachzusehen, ob sie heimgekehrt war? Um nachzusehen, ob mit ihr alles in Ordnung war? Er achtete darauf, dass ihn keiner sah, klopfte an die Tür und wartete ein paar Sekunden, bevor er aufmachte und eintrat. Einen Moment lang verweilte er reglos in dem dunklen Zimmer, der abgestandene Parfümgeruch, das ungemachte Bett, der unaufgeräumte Schreibtisch, das überfüllte Bücherregal, die schmutzige Wäsche auf dem Boden. Er ging zum Schreibtisch und strich mit der Hand über die Zeitschriften und Schminksachen sowie über ein rosa Buch, das ihr Tagebuch sein musste. Das heimliche Erinnerungsbuch, von dem sie ihm erzählt hatte. Er steckte es unter seinem dicken Pullover in die Hose. Er spürte, wie sein Herz pochte. Warum war er so nervös? Er öffnete die beiden Kleiderschränke. Glaubte er, sie hätte sich darin versteckt? Er riss die blau-weiß gestreifte Decke vom Bett und sah auf dem Laken einen dunklen Klumpen. Er nahm sein Handy und untersuchte ihn im Licht des Displays. Die fette Schnecke auf dem weißen Laken sah aus wie ein schwarzbrauner Schwanz.

I rritiert klagte Siri über Fältchen im Gesicht, über das, was die Zeit mit ihr gemacht hatte (als hätte die Zeit sie zum Tanz aufgefordert und sei ihr anschließend unverschämterweise auf die Füße getreten), sie betrachtete sich ständig im Spiegel, in Schaufenstern, in geparkten dunkellackierten Autos, nicht weil sie so viel eitler war als andere, sondern weil sie hoffte, in einem dieser Spiegel eine andere Siri zu erblicken. Jon sagte ihr, sie sei hübscher denn je. Wenn sie draußen herumliefen, hielten sie sich bei den Händen. Hatten sie sich eine Weile nicht gesehen, küssten sie sich behutsam auf den Mund. Sie wollten so gern dahin, wo sich die Zärtlichkeit befand.
    Als Jon Siri zum ersten Mal sah, stand er in großer Entfernung zu ihr, und gerade ihre Art, sich zu bewegen, führte dazu, dass er sich in sie verliebte – und auch der Umstand, dass sie ihn nicht beachtete. Sie überquerte die Akersgata und kam ihm auf hochhackigen Stiefeletten entgegen. Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn sehen, aber nein. Sie ging einfach vorbei. Das geschah zu Zeiten, als Jon wahrgenommen wurde, als er sogar eine gewisse Aufmerksamkeit erregte, er brauchte sich bloß irgendwo hinzustellen, zum Beispiel an eine Straßenecke, reglos dazustehen und eine Frau anzustarren, schon witterte sie ihn, reckte ein wenig den Hals und sah ihn an. Ihm gefiel die Vorstellung, dass er über eine Art magische Kräfte verfügte – die Fähigkeit, eine Frau herbeizustarren. Doch Siri hatte ihn nicht beachtet, sie war einfach vorbeigegangen, und er kann sich erinnern, dass er noch nie eine Frau gesehen zu haben glaubte, die sich anmutiger bewegte.
    Leopold stand auf und verließ das Arbeitszimmer. Jon hörte sein Tapsen auf der Treppe. Dieses Tapsen hörte er jede Nacht. Das zugige Reihenhaus hatte die Geräusche der Familie in den letzten zwanzig Jahren gewissermaßen in sich aufgesogen – Leopolds Tapsen auf der Treppe, Siris Seufzen während der Schwangerschaft mit Liv, Almas unermüdliche Interpretation des Kinderlieds Die kleine Singdrossel . Ja, Jon hörte noch heute seine Tochter singen, hörte ihre hohe, helle, klare Kinderstimme, losgelöst von dem dazugehörigen Mädchen, wie eine kleine Flöte im Haus. Alma war gerade dreizehn geworden, und es war lange her, dass sie überhaupt etwas gesungen hatte. Heute zog sie mit einer riesigen Schere in der Hand los, heute waren sie und er und Siri ein Fall für das Jugendamt.
    Jon war allein im Haus und konnte für kurze Zeit tun und lassen, was er wollte. Konnte sich zum Beispiel hinlegen und schlafen. Das würde er am liebsten tun, alles wegschlafen, Siri, Alma, Mille, die Blicke dieser Frauen, seinen unausstehlichen besten Freund und dessen uncharmante Frau ( muss das Verhältnis mit Karoline beenden! ), den Brief an Milles Eltern, den er und Siri nicht zu schreiben vermochten, immer wieder vor sich herschoben, aber er traute sich nicht zu schlafen, denn dann würde

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