Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
verschwunden.
Es war stets dasselbe Foto, das die Titelseiten der Zeitungen und die Nachrichtensendungen im Fernsehen zierte. Siri, die Mille immer mondschön genannt hatte, starrte das Bild an und stellte fest, dass ihr Gesicht nichts Mondhaftes mehr hatte. Nein, in dem Moment, in dem die Aufnahme gemacht wurde, war Mille jung und hübsch. Und genau so blieb sie allen, die sie nicht gekannt hatten, in Erinnerung. Die hübsche Mille, die verschwand und dieses Bild hinterließ. Blaues Jeanskleid, Pferdeschwanz, volle trockene Lippen mit etwas rotem Lippenstift. Es ist ein fröhliches Bild, das Porträt einer anderen Mille, ohne Hintergrund, ohne Requisiten, ohne Geschichte – wenn man von einem etwas verschwommenen schwarzen Fleck in der unteren linken Ecke des Fotos absah. Ein Kamerafehler? Eine Warnung, aber wovor? Mille lächelt und kneift aufgrund des starken Sommerlichts die Augen zusammen. Sie sieht den Fotografen gespielt genervt an, als wollte sie sagen, jetzt keine weiteren Bilder mehr von mir, lass uns lieber in die Sonne gehen und etwas anderes machen . Das Foto von Mille ähnelte überhaupt nicht der Mille, die Siri sah. So voller Leben , sagten die Freundinnen und zündeten Kerzen an. Eine Lichtbringerin . Es gab viele, die von Milles Licht erzählten. Gesehen, geliebt, vermisst.
Siri schnitt das Foto aus und schaute es sich hin und wieder an. Komm schon, lass uns was anderes machen … Niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass sie wirklich tot war, doch die Hoffnung, sie noch lebend zu finden, schwand mit der Zeit. Die Freundinnen starteten eine Lichtkampagne auf Facebook. Und da war es wieder – dasselbe Foto. Mit einem Lachen im Blick. Wen lacht sie da an? Wer ist der Fotograf? Zünde eine Kerze für Mille an. Es war dunkel, als sie verschwand, zünde eine Kerze an, damit sie zu uns zurückfindet. Immerzu da. Stets dasselbe Foto. Komm, komm mit! Schön und verschwunden.
S ie war so klein wie eine Puppe, viel kleiner als andere Mädchen ihres Alters, und sie saß auf dem Arm ihres Vaters, und sie rannten durch das hohe Gras, und sie erinnerte sich an seinen heißen Atem an ihrer Wange und den großen Mund, der sie küssend kitzelte, und seine Stimme, die flüsterte, beeil dich, Mille, du musst dich beeilen, dreh dich nicht um, beeil dich und lauf , aber Mille konnte sich nicht beeilen. Sie saß nicht auf dem Arm ihres Vaters. Sie konnte nicht laufen. Und sie war nicht so klein wie eine Puppe. Niemand war so schwer wie sie. Und ihr Vater war nicht da. Niemand war da. Und vor ihr lag der lange Weg nach Mailund, und sie wusste nicht, ob sie es bis ganz nach oben schaffen würde, zu dem Haus auf der Anhöhe. Die Beine funktionierten nicht, wie sie sollten. Kratzer an den Knien. An den Oberschenkeln. Am Bauch. Im Gesicht. Er hatte ihr das Knie in die Rippen gerammt, als sie noch aufrecht stand, und sie hatte keine Luft mehr bekommen und war auf die Knie gefallen und hatte sich aufgeschürft. Er wollte nicht auf sie hören, als sie sagte, sie wolle nach Hause. Sein Mund war wabbelig und nass, seine Zunge in ihrem Mund war immer größer geworden, und sie hatte ihn weggeschubst und gesagt, sie wolle jetzt nach Hause, sie wolle das hier nicht, er habe sie missverstanden, und in dem Moment rammte er ihr das Knie in die Rippen und sagte: »Du willst nicht, sagst du?«
Sie hatten das Bellini verlassen, und er hatte ihr zugeflüstert, er würde eine schöne Stelle kennen, wo sie ein wenig für sich sein könnten, und dann waren sie auf einem Fußweg bei den Trümmerhaufen hinter der Schule rausgekommen, nicht weit vom Brageveien entfernt. Überall Splitt und Steine und Sand, und darum waren ihre Hände komplett aufgeschürft.
Mille hatte überlebt. Sie lief hier entlang. Und er war nicht mehr da. Die eigentliche Vergewaltigung hatte nicht lange gedauert, anschließend hatte er ihr sogar angeboten, ihr hochzuhelfen. Hatte ihr die Hand hingestreckt.
»Findest du allein nach Hause«, fragte er.
»Ja«, sagte Mille.
Sie lag immer noch auf der Erde. Sie hatte sich zusammengerollt wie ein kleines Tier.
»Wunderbar«, sagte er, »das ist gut so. Wir sehen uns. Okay?«
»Okay«, sagte Mille.
»Ich hole jetzt das Auto«, sagte er, und dann ging er los, und Mille verstand nicht, warum er das mit dem Auto sagte. Sie hielt es für wichtig, für eins dieser Dinge, deren Bedeutung sie verstehen musste, aber sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, hatte keine Lust, darüber nachzudenken.
Mit der zerrissenen
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