Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
schmal und dunkel von Simens Haus, dem zweiten von unten, bis zu Jenny Brodals Haus ganz oben schlängelte. Simen war der Junge mit dem Fahrrad. Er lag jetzt bestimmt schon im Bett. Aber sie überlegte, ob sie an der Tür klingeln und mit seinen Eltern sprechen sollte, sagen sollte: Ich heiße Mille, ich kenne Simen ein bisschen, er ist vorhin mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich wehgetan, und ich würde gern wissen, wie es ihm geht?
Aber nein. Sie würden sie sicher nur komisch anschauen. Sie hatte keine Unterhose an, und es floss immer noch etwas Strengriechendes aus ihrer Scheide. Auch hatte sie keine Schuhe an den Füßen, und das Kleid und der Schal waren voller Flecken. Den Regenschirm hatte sie verloren. Was würden sie denken? Es war sicherlich schwierig, in der jetzigen Situation, so wie sie aussah, wie sie nach außen wirkte, zu erklären, dass sie und Simen Freunde waren, dass sie ihn nach Hause begleitet hatte, dass sie ihm nichts Böses wollte, dass die Frau, die sie jetzt war und die die anderen sahen, die die anderen rochen, eigentlich nicht sie war und dass sie nur ein wenig Hilfe brauchte. Dürfte sie vielleicht ihre Eltern anrufen? Und warum konnte sie nicht ihr eigenes Handy benutzen? Warum nicht? Was sollte sie dann sagen? Was war die Erklärung? Weil er es ihr weggenommen hatte? Das ging nicht. Sie würde zusammenbrechen und anfangen zu stottern oder zu heulen, bevor sie auch nur die Hälfte dessen erzählt hatte, was gesagt werden musste.
Sie ging noch ein Stück weiter, dann blieb sie stehen. Sie musste wieder Kraft schöpfen. Hieß es nicht so? Sagten das nicht ältere Menschen, wenn sie etwas müde wurden? Dass sie wieder Kraft schöpfen mussten? Einmal hatte Mille einer alten Frau über die Straße geholfen, und die Autos warteten, und alles stand vollkommen still und wartete darauf, dass die alte Frau wieder Kraft schöpfte. Und so ging es Mille jetzt. Sie musste stehen bleiben und wieder Kraft schöpfen. Sie wünschte sich, sie könnte viele Stunden zurückdrehen. Aber das ging nicht, dann war es wohl besser so, wie es war, dass sie sich wie eine alte Frau bewegte, die Straße mit den hundert Kurven hinauf, und plötzlich hörte sie ein Auto.
Sie drehte sich um. Es kam in hohem Tempo angebraust und erleuchtete auf der Straße alles um sich herum. In einem wirren Augenblick glaubte sie, ihr Vater sei gekommen. Oder ihre Mutter. Doch dann musste sie zur Seite springen und sich in den Graben werfen. Das Auto brauste in hohem Tempo vorbei. Es sah aus wie Jennys Opel. Mille setzte sich auf. Es war Jennys Opel. Und das Auto hielt, und es war schwer zu erkennen, wer darin saß, zwei Personen auf den Vordersitzen, sie sah sie nicht von vorn, aber Mille war sich ziemlich sicher, dass es Jenny und Alma waren. Warum waren sie nachts mit dem Wagen unterwegs? Warum waren sie nicht auf dem Fest? War das Fest vorbei? Wie spät war es eigentlich? Das Auto fuhr langsam wieder los, bog um die Kurve und fuhr dann weiter hinauf zum Haus. Auch als sie das Auto nicht mehr sah, konnte sie den Motor noch hören. Sie hörte, dass er ausging, als das Auto oben angekommen war. Es war gut so, dachte sie, es war gut, dass sie sie nicht gesehen hatten. Was um Himmels willen hätte sie dann gemacht?
Mille stand auf und ging ein Stück weiter.
Sie sah hoch zu dem dunklen Himmel.
»Papa!«, flüsterte sie. »Mama!« Dann setzte sie sich wieder an den Straßenrand, faltete die Hände und versuchte zu beten. Sie hatte gehört, wie sich ein anderes Auto näherte, und sie wusste, dass es nicht ihre Eltern waren, die in diesem Wagen saßen. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Dass die Eltern nicht kommen würden, dass sie es nicht nach Hause schaffen würde. Er hatte gesagt, er würde das Auto holen, und ihr war klar gewesen, dass es wichtig war und dass sie verstehen musste, was es bedeutete, und jetzt verstand sie es, und darum schloss sie die Augen und hielt sich die Ohren zu. Wollte das Auto nicht hören. Wollte es nicht sehen. Nein, sie wollte nur hier sitzen bleiben und atmen, bis sie nicht mehr atmen konnte. Das Auto kam näher, und obwohl sie die Augen schloss, merkte sie, dass alles um sie herum angestrahlt wurde. Das Auto hielt. Und Mille erinnerte sich, wie sie zusammen mit dem Vater dagestanden und allen anderen beim Schlittschuhlaufen zugesehen hatte, ja, wir bleiben jetzt einfach ein bisschen hier stehen und schauen zu , hatte der Vater gesagt, statt selbst zu laufen, es dauert seine Zeit, bis man
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