Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
schloss die Augen und atmete tief durch. Er machte die Augen auf und sagte leise – und so liebevoll wie möglich: »Was meinst du, bist du bald fertig, oder soll ich draußen auf dich warten?«
Alma untersuchte ihre Mütze und strich mit der Hand darüber.
»Kannst du hier auf mich warten? Ich will mit dir zusammen rausgehen!«
Die ältere Frau vom Nachbartisch sah ihnen zu. Sie sagte: »Gehen Sie schon? Haben die Windbeutel denn nicht geschmeckt?«
Jon lächelte sie an und wunderte sich zugleich darüber, welche guten Kräfte ihn daran hinderten, ihr eine Ohrfeige zu verpassen und sie anzuschreien, sie solle sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und andere Leute in Ruhe lassen.
A lma bürstete ein paar Krümel von der Mütze, es war wichtig, nicht mit Krümeln an der Mütze herumzulaufen, für so etwas hagelte es Kommentare von den Mädchen aus ihrer Parallelklasse, und dann stellte sie sich vor, dass sie den Blick hob, den, der töten konnte, und dass die ganze Konditorei in ein Inferno aus umgefallenen Tischen und Stühlen, aus Tellern, Besteck, zerbrochenen Gläsern, Rosinenbrötchen, Kuchen und Butterbroten mit Petersiliensträußchen auf dem Fußboden verwandelt wurde. Die Geräusche von Menschen, die versuchten, leise zu sein, weil sie Angst vor dem hatten, was sie mit ihnen anstellen könnte. Stehend, hockend, liegend, zusammengekauert und hinter einem umgefallenen Tisch oder Stuhl versteckt. Sie stellte sich vor, wie ihr Blick von einem Gesicht zum anderen ging. Zu der Frau in dem mohnroten Kleid. Zu der älteren Frau mit der Kaffeetasse in der Hand, die andere Menschen nicht in Ruhe lassen konnte. Zu den Mädchen aus der Parallelklasse. Zu Papa auf dem Weg nach draußen. Habe keine Lust, noch länger hier zu warten. Warte draußen auf dich. Zu der Mutter mit dem Baby. Zu dem Baby, das nicht verstand, was alle anderen zu verstehen glaubten, nämlich, dass ohrenbetäubende Stille ihre einzige Überlebenschance war. Das Baby schrie, weil es Hunger hatte und die Mutter nicht die Bluse aufmachen und ihm die Brust geben wollte. Alma machte den Mund auf und ließ alle miteinander, die Lebenden und die Toten, ihre Stimme hören. Sie schrie: STOPFT DEM VERDAMMTEN BABY DAS MAUL ! Ihre Stimme war hell und heiser, als müsste sie alles, was ihr noch an Lauten geblieben war, zusammennehmen, um genau diese Worte herauszupressen.
Die Frau mit dem mohnroten Kleid erhob sich und kam langsam auf Alma zu. Sie zeigte auf den leeren Stuhl, auf dem Jon eben noch gesessen hatte. Sie sagte: »Ist der Stuhl frei? Kann ich ihn haben?«
Alma nickte.
Die Frau sagte danke, nahm den Stuhl und trug ihn zu ihrem Tisch. Und dann kam sie noch einmal. Die Frau mit dem mohnroten Kleid erhob sich und kam langsam auf Alma zu. Sie sagte: »Dir ist bestimmt klar, dass das Mädchen nichts dafür kann, dass es weint. Und dass niemand etwas dagegen tun kann. Aber ich will dir helfen. Gib mir deine Hand!«
Und Alma gab ihr die Hand, und die Frau zog sie zu sich heran und drückte sie an sich, und Alma hörte nicht auf zu weinen.
Alle Krümel waren von der Mütze verschwunden. Kein einziger war mehr übrig.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte die ältere Frau, die andere Menschen nicht in Ruhe lassen konnte.
Alma gab keine Antwort und drehte sich auch nicht um, als sie ging. Mille hatte ihr gesagt, man solle sich niemals umdrehen. Drehte man sich um, ging alles schief. Aber Alma hatte sich umgedreht, damals in Omas Auto, und Alma hatte gesehen, dass Mille am Straßenrand saß, und Alma hatte stopp! gesagt. Sie wusste genau, dass sie stopp! gesagt hatte, und dann hatte sie gesagt, sollen wir sie mitnehmen? , und Oma hatte gesagt, wen mitnehmen? , und Alma hatte gesagt, niemanden, ich dachte, ich hätte jemanden gesehen . Okay , hatte Oma gesagt, dann fahren wir jetzt heim , und dann waren sie das letzte Stück nach Mailund gefahren, und Alma hatte in der Nacht gedacht, dass Oma nicht ganz bei sich gewesen war, dass sie vielleicht zu viel getrunken hatte.
Die Mädchen aus der Parallelklasse kicherten, aber Alma drehte sich nicht um.
E s war mehr als vier Jahre her, aber Siri erinnerte sich noch gut daran, dass es ein Sonntag gewesen war, dass es geregnet hatte, sie erinnerte sich an alles, sie erinnerte sich an Jons Laptop auf dem Esstisch, offen, auseinanderklaffend, schamlos einladend.
Sie erinnerte sich daran, wie sie sich über den Bildschirm beugte und las. Eine Mail von Jon an eine Frau mit Namen Paula
Weitere Kostenlose Bücher