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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Krohn.
    Ich denke daran, wie es wäre, nur du und ich, frühmorgens, vormittags, nachmittags, abends, nachts, und ich denke an alles, was du bist, und an alles, was du mir zeigen kannst, und an alles, was ich mit dir machen will. Du fragst, ob ich unglücklich bin, ob mich der Gedanke an dich unglücklich macht, aber allein zu wissen, dass es dich gibt, macht mich glücklich (ich sehe dein Gesicht vor mir, deine Haare, deine Augen, dein Licht, deine Brüste, deinen Bauch, die weiche Haut), aber die Situation ist, wie sie ist – und vielleicht macht sie mich unglücklich. Ich denke morgens, vormittags, nachmittags, abends und nachts an dich, aber ich kann nur in Gedanken bei dir sein, weil, ja, du weißt schon. Weil.
    Zunächst Erleichterung. Alles fügte sich plötzlich zu einem Bild. Alle Verdächtigungen wurden bestätigt. Ich bin nicht geisteskrank . Sie hatte recht gehabt, obwohl er ihr immer wieder erzählt hatte, dass sie sich irre, sich die Dinge einbilde, es seien nur Träume und Phantasien, aber sie hatte recht gehabt. Sie war nicht geisteskrank. Alles war eine verdammte Lüge.
    Siri las die Mail noch einmal.
    Aber ich kann nur in Gedanken bei dir sein, weil, ja, du weißt schon. Weil.
    Weil – was?
    Weil er mit Siri verheiratet war? Weil Siri eine Bürde war, so schwer, dass sie sich nicht mit Worten beschreiben ließ? Sie hielt die Luft an. Was hatte sie aus ihrem Leben gemacht? Dass sie eine Bürde war, so schwer, dass sie sich nicht mit Worten beschreiben ließ, oder dass sie so komplett unsichtbar war für ihn, so bedeutungslos, so leicht, so flüchtig, so schnell zu vergessen, so durchsichtig, dass sie nicht einen Buchstaben wert war?
    Weil, ja, du weißt schon. Weil.
    Sie las es noch einmal. Und noch einmal. Warum schrieb er nicht: »Weil ich mit Siri verheiratet bin und unsere Geschichte eine Bürde ist, so schwer, dass sie sich nicht mit Worten beschreiben lässt.« Oder: »Weil ich mit Siri verheiratet bin und unsere Geschichte so leicht ist, dass sie nicht einen Buchstaben wert ist.«
    Sie sagte kein Wort davon zu Jon. Nicht am ersten Abend, nicht am zweiten Abend und auch nicht am dritten.
    »Was ist los?«, fragte Jon. »Du bist so still. Stimmt was nicht?«
    »Es ist nichts«, sagte Siri.
    Als sie das nächste Mal seinen Posteingang überprüfte, hatte er die Mail gelöscht.
    Ich sehe dein Gesicht vor mir.
    Aber Siri hatte die Worte auswendig gelernt, sie konnte sie blind aufschreiben, sie in der Kirche vorsingen, sie vor dem König aufsagen, und sie weiß noch, dass sie sich gefragt hatte, ob in dem Land, in dem Jon sich befand, dem Land, das Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend und Nacht hieß, Platz für sie war. Gab es ein Schlupfloch zwischen Abend und Nacht? Zwischen Vormittag und Nachmittag? Zwischen Nachmittag und Abend?
    In den Monaten danach sagte sie sich häufig im Geiste die Mail auf, wie einen schwierigen Text, den sie pauken musste, um ihn nicht zu vergessen, sie drehte und wendete die Buchstaben, sah Jon vor sich, wie er schrieb, und Paula, wie sie las, und die Worte lösten sich auf und formten sich um und schafften neue Bedeutungen und Zusammenhänge, abhängig davon, wo in der Mail sie ein- und wo sie ausstieg.
    Ich denke daran, wie es wäre, nur du und ich.
    Hätte Siri etwas gesagt, dann vielleicht Folgendes: Das hier ist wie der Cold Song, wie Let me, let me freeze . Das Schlimmste ist, dass ich dir nicht erklären kann, wie sehr es schmerzt. Du vereinbarst Treffen mit anderen und freust dich auf sie und lügst mich an und verschwindest mit dem Hund, ich muss noch Milch kaufen, ich muss noch Brot kaufen . Aber kein Mensch kann dich zwingen, bei mir zu bleiben, und ich weiß, dass ich gehen müsste, weil ich es nicht ertrage, ich ertrage es nicht, ein Körper neben anderen Körpern zu sein.
    Dabei hatte ich geglaubt, wir wären die Ausnahme, wir wären die große Ausnahme, du wärst der Allereinzige für mich, und ich die Allereinzige für dich, und die Katastrophe, die alle anderen trifft, die peinlichste aller Katastrophen, die demütigendste und banalste, über die wir uns erheben und über die wir lachen, wenn sie andere trifft (die Lüge, das Fremdgehen, die Auseinandersetzung, die Versöhnung, die neue Lüge in ewiger Wiederholung), würde uns nicht treffen. Ich wollte deine Allereinzige sein, kein Körper neben all den anderen Körpern, nackt aufgereiht, nackt marschierend, ein Körper neben all den anderen Körpern, mit Körperfunktionen und Körperteilen,

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