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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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schönen oder hässlichen, gesunden oder kranken, starken oder schwachen – die Nudistin, die Sportlerin, die Patientin (wie sie in der Krankenakte beschrieben wird), die Leiche –, ein Körper neben anderen Körpern, die Art, wie wir uns berühren, die Geräusche, die wir von uns geben, was wir zueinander sagen, wenn wir nebeneinander liegen, alles ohne jegliche Scham, ohne Licht, ohne Geheimnis, denn jetzt ist die andere die Heimliche, die Allereinzige, muss noch Milch kaufen, muss noch Brot kaufen.
    Eines Nachts vor noch nicht allzu langer Zeit – Jon konnte nicht schlafen und legte sich zu Siri ins Bett – erzählte sie ihm von einer Welt, in der die Bienen verschwinden, ohne dass jemand eine Erklärung dafür hat. (Erzählst du Paula Krohn Geschichten, wenn sie nicht schlafen kann? Erzählt sie dir Geschichten?) Sie verschwinden in Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, in der Schweiz, in Deutschland. Sie verschwinden in Taiwan und in den USA . Die Imker haben bestimmt neunzig Prozent ihrer Bienenkolonien verloren. Es heißt, die Bienen verlören ihren Orientierungssinn und fänden nicht mehr zum Bienenstock zurück, es heißt, die inneren Organe der Bienen würden größer werden, so groß, dass die Bienen möglicherweise explodieren und sterben würden. Die Bienen, die man findet, sind mit allerlei Krankheiten infiziert. Aber die meisten werden gar nicht gefunden. Milliarden von Bienen wie vom Erdboden verschluckt. Auf der ganzen Welt. Hörst du ihr Summen? Sie haben sich in Luft aufgelöst. Sie haben sich aufgelöst und sind zu Staub geworden. Nicht zu gutem Staub, sondern zu bösem. Sie haben sich versteckt vor dir und mir und allem und jedem, das sie im Laufe der Zeit im Stich gelassen hat. Und kein Mensch kann sagen, wann die Geschichte über das Verschwinden der Bienen angefangen hat und wann sie enden wird, nur dass sie verschwinden.
    »Ola hatte Bienen«, sagte Siri, »das weißt du ja. Und ich habe einmal ein Rezept gefunden für das, was im Englischen sweet bee banana bread heißt, und das Ganze war so lecker, dass ich es immer wieder gemacht habe, und alle, die ins Restaurant im Frognerveien kamen, wollten Sweet Bee Banana Bread haben, und das Geheimnis war natürlich der Honig. Ich habe alles über Honig gelesen. Und über Bienen. Ich habe Vergil gelesen, der im vierten Teil seines Gedichts Georgica über Bienen, die Imkerei und den Bienenstaat schreibt. ›Mancher‹, schreibt Vergil – hörst du, Jon? Ich knipse jetzt das Licht an und lese es dir vor –, ›mancher … lehrete, daß in den Bienen ein Teil des göttlichen Geistes wohn’ und ätherischer Hauch. Denn die Gottheit gehe durch alle Lande sowohl, als Räume des Meers und Tiefen des Himmels.‹«
    Siri sah Jon nicht an und legte auch das Buch nicht weg.
    »Willst du noch mehr hören?«, fragte sie, wartete die Antwort aber nicht ab.
    »Vergil hielt die Bienen für unsterblich, sie seien Teil des Göttlichen. Und Thymian duftet der Honig . So wertvoll sind sie. Oder waren sie. Bevor sie verschwanden, von uns ausgemerzt, von der Ausmerzung ausgemerzt. ›Schafe daher und Rinder‹, schreibt Vergil, ›der Mensch und des Wildes Geschlechter, jedes bei seiner Geburt entschöpf’ ihr zarte Belebung. Siehe, auch dorthin kehre dereinst, der Verwesung entronnen, alles zurück, und nirgends sei Tod; es schwinge sich lebend mit in die Zahl des Gestirns und schweb’ hoch unter den Himmel.‹«
    Sie legte das Buch weg.
    »Und nirgends sei Tod. Was glaubst du, hat er damit gemeint?«
    Sie wartete die Antwort nicht ab.
    »Aber es stimmt ja auch nicht. Natürlich gibt es den Tod. Überall. Selbst in den trivialsten und allerkleinsten Dingen.« Ich muss noch Brot kaufen, muss noch Milch kaufen. »Gründe für das Verschwinden der Bienen kann es viele geben. Was meinst du? Ein unsichtbares Gas? Pflanzengift? Schlechte Nahrung? Gifte gegen Parasiten? Mutierte krankheitsauslösende Organismen? Stress aufgrund von Trockenheit – kannst du dir so etwas Trauriges wie gestresste Bienen vorstellen? Genmodifizierte Pflanzen? Funkwellenstrahlung? Manche glauben, der Terrorismus sei schuld. Islamisten, die der amerikanischen Landwirtschaft schaden wollen. Das Verschwinden ist in jedem Fall schmerzhaft. Wusstest du«, fuhr sie fort, und jetzt flüsterte sie, weil er kurz vorm Einschlafen war oder wenigstens so tat, »dass wir ohne die Bienen als Bestäuber von Pflanzen ein Drittel unserer Lebensmittel einbüßen

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