Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
werden?«
Deine Haare, deine Augen, dein Licht.
Einmal, vor der Zeit der E-Mails, vor Alma, vor Liv, in Zeiten des Staubmantels und des dünnen Hüftknochens, schrieb Jon Siri einen Brief, und darin stand: Dein Licht leuchtet. Und das sagte er auch in regelmäßigen Abständen zu ihr. Sie war hell. Sie leuchtete. Er brauchte sie. Sie war seine Allereinzige.
Sogar die Worte (die Liebeserklärungen) hatte er an die andere weitergegeben. Worte, die, wenn man sie auf die eine oder andere Weise zusammensetzte, das heißt, nicht auf die eine oder andere Weise, sondern auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Summe von Siris und Jons Geschichte ausmachten. Aber jetzt hatte er einer anderen die Worte geschenkt. Siri war nicht länger seine Allereinzige. Sie war nicht einmal mehr die Einzige, die leuchtete . Jetzt ging die Geschichte so (und die Geschichte ist nicht einmal besonders originell, sie ist sogar äußerst banal und peinlich): Zunächst leuchtete Siri. Dann leuchtete Paula. Dein Licht leuchtet. Eine einzige verdammte Lüge.
(Zu Jons, des untreuen Mannes, Verteidigung ist anzumerken, dass Jon ein Autor mit Schreibblockade ist. Er hätte den dritten Band dessen, was die Trilogie dieses Jahrzehnts werden sollte, vor mehreren Jahren abgeben sollen, findet aber nicht die Worte für das, was er schreiben will, das Einzige, was er bisher hervorgebracht hat, ist, dass er »eine Hymne« schreiben wollte »an das, was bleibt, und das, was vergeht«, und das reicht auf Dauer nicht, das musste er auf schmerzliche Weise erfahren, eine Hymne an alles, was bleibt und was vergeht, ist schlicht und einfach Unsinn. Man kann mit anderen Worten nicht erwarten oder verlangen – es wäre unangebracht, zu erwarten oder zu verlangen –, dass Jon, ein Mann mit Schreibblockade, jedes Mal neue Worte findet, wenn er sich in eine neue Frau verliebt.)
Aber das mit dem Licht konnte sie ihm nicht verzeihen. Deine Haare, deine Augen, dein Licht.
Dass die andere Frau Haare und Augen hatte, leuchtete ein, auch Siri hatte Haare und Augen, die meisten Frauen hatten Haare und Augen, aber Jon betonte die Haare und die Augen nicht, um zu bestätigen, was sowieso einleuchtete: dass Paula Krohn Haare und Augen hatte. Es wäre aufsehenerregender gewesen (und eine ganz andere und originellere Geschichte), wenn sich Paula Krohn als kahlköpfige Frau ohne Augen erwiesen hätte. Nein, Jon betonte die Haare und die Augen, um ihr Folgendes zu versichern: Ich sehe dich. Deine speziellen Haare. Deine speziellen Augen. Du bist kein Körper neben anderen Körpern. Du bist die Allereinzige.
(In welchem Maße er der Meinung war, Paula Krohn sei die Allereinzige, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. Was in Jons Kopf vor sich ging, als er die Mail verfasste, ist etwas völlig anderes als das, was in Siris Kopf vor sich ging, als sie sie las. Jons Liebesmail war aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis eines ganz normalen Tauschhandels, bei dem die Regeln für Kauf und Verkauf, Angebot und Nachfrage, Geben und Nehmen klar und eindeutig waren: Du wirst von mir wahrgenommen und beschrieben. Könntest du im Gegenzug mich wahrnehmen und beschreiben? )
Außerdem hatte die andere Frau nicht nur Augen und Haare, es ging auch um ihr Licht – und das hätte er sich sparen können, dachte Siri.
Und wenn sie Jon erzählt hätte, dass sie die Mail gelesen hatte, dass sie beinahe in sich zusammengesackt war und nicht mehr aufstehen konnte, wie eine Marionette, dass der Schmerz körperlicher Art war, dass er schwer und kalt war, als würde man mit Steinen gefüttert, hätte sie vielleicht gefragt: »Leuchten wir gleichzeitig, Paula Krohn und ich, wie die Zwillingstürme auf Thacher Island? Oder habe ich in dem Moment aufgehört zu leuchten, in dem Paula Krohn damit begann? Und von wie vielen Lichtern sprechen wir hier eigentlich?«
Siri zerbrach ein Glas, schnitt sich aber nicht in die Haut. Siri neigte nicht zu derlei Dramen, sonst wäre das Banale perfekt. Sie wollte nicht zu Kitsch werden. Zu einem Körper neben anderen Körpern, zu einer, die sich in die Hand schnitt oder in den Fuß, weil sie von ihrem Mann betrogen worden war. Stattdessen knotete sie ihre Schnürsenkel so lose zu, dass sie fast strauchelte und das Gleichgewicht verlor, als sie draußen herumlief. Kein Mensch durfte wissen, dass sie auf ein Weil reduziert worden war. Auf Kitsch. Auf eine banale Geschichte über eine banale Frau, die sich schneiden wollte. Aber irgendetwas musste sie tun
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