Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
resigniert die Arme. »Die sind mir zu klebrig.«
Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen oder hätte geweint oder getrunken oder alles auf einmal, er hielt das nicht aus, sie wollte zu viel, und er selbst saß da und wünschte sich, sie würde ihn verstehen, sie würde ihn verstehen und ihn nicht nur die ganze Zeit brauchen, wobei ihm zugleich klar war, wie absurd dieser Wunsch war. Alma war ein Kind, ein Kind, das all seine Liebe in Jons Hände legte. Sie könne etwas anderes haben, sagte er, was immer sie wolle, die Glastheke war voll mit Kuchen, belegten Brötchen, Rosinenbrötchen und Schokoladentorte, und während er sprach, ging ihm auf – vielleicht nicht sofort, sondern erst später –, wie viel sich zwischen ihnen verändert hatte und dass er nur noch ungern zu ihr sagte, er habe sie lieb, denn dann würde sie alles fallen lassen, was sie in den Händen hielt (den Kakao, den Windbeutel, das Saftglas, alles!) und sich in seine Arme stürzen oder auf seinen Schoß springen. Ihre Bewegungen waren so heftig, dass immer etwas umfiel – Stühle, Tische, Papierstapel, Glasvasen. In ihrem Eifer, ihn zu umarmen, beachtete sie ihre Umgebung nicht.
Alma war groß geworden, genau wie andere Mädchen, und sie war mittlerweile zu groß für seinen Schoß, ihr etwas breiter, rundlicher Po, die langen dünnen Arme, die langen dünnen Beine, die linkischen Hände, die knöchelharten Kugeln unter dem T-Shirt, wo ihre Brüste heranwachsen sollten, der Töchterchenkörper war nicht länger perfekt leicht und warm und kleinkindweich, er war zu etwas anderem geworden, etwas Fremdem, etwas Invadierendem.
»Wir können gern auch gehen«, sagte er. »Uns eine andere Tradition ausdenken.«
Er sah sich die anderen Tische im Raum an und erblickte eine hübsche Frau im roten Kleid, dachte an die knallroten Mohnblumen, die er vor vielen Jahren zusammen mit Siri auf Gotland gesehen hatte. Er lächelte der Frau zu, und sie lächelte zurück.
Alma nickte.
»Eine andere Vater-Tochter-Tradition«, sagte er.
Er stand schon in Mantel und Handschuhen bereit, hatte die Mütze auf dem Kopf. Sie nickte erneut. Die dunklen Augen unter dem Pony.
»Wir können ans Meer fahren«, sagte er. »Nicht heute, aber ein andermal. Bald. Wir können ans Meer fahren und feiern, dass der Frühling Einzug hält.«
Jetzt konnte es ihm nicht schnell genug gehen, aber Alma brauchte lange, um Handschuhe, Mütze, Schal und Daunenjacke anzuziehen, und Jon stand dabei, atmete tief durch und übte sich darin, die Fassung zu wahren. Er durfte nicht ungeduldig werden. Er durfte nicht ungeduldig werden. Er durfte nicht ungeduldig werden. Als Alma jünger war, sechs oder sieben, wehrte sie sich gegen Siris und Jons Ungeduld, indem sie sich das Recht herausnahm, sich bei allem so viel Zeit zu lassen, wie sie gerade brauchte – ob sie ein Bild malte, am Essen war, auf der Toilette saß oder mit ihren Puppen spielte. Dass sie sich beim Anziehen viel Zeit ließ, besonders wenn sie sich für draußen fertig machte, war seit Jahren so. Denn alles musste in einer festgelegten Reihenfolge und auf ganz bestimmte Weise angezogen werden. Die Kleider mussten so am Körper anliegen, dass sie sich angenehm anfühlten. Lücken und Klumpen waren zu vermeiden, die Socken mussten so an den Beinen hochgezogen werden, dass sie stramm um die Strumpfhosenfüße saßen, und die Handschuhe gehörten unter die Ärmel der Daunenjacke. Das alles kostete Zeit, und sowohl Siri als auch Jon wussten, dass es nichts nützte zu sagen, man könne sich auch schneller anziehen, es sei vielleicht nicht so wichtig, ob sie die Handschuhe vor der Daunenjacke anzog oder danach.
Als Alma noch jünger war, hatten solche Maßregelungen dazu geführt, dass sie sich auf der Stelle nackt auszog, um dann wieder von vorn anzufangen. Und es nützte auch jetzt nichts, sie zu bedrängen, obwohl sie mittlerweile älter war. Siris und Jons Ungeduld hatte denselben Effekt auf Alma, wie der Troll sie auf die Freier im Märchen hatte, sie erstarrte zu Stein und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
Alma, du kommst zu spät zur Schule.
Alma, alle warten auf dich.
Alma, es spielt keine Rolle, ob die Handschuhe in den Ärmeln der Daunenjacke stecken oder nicht.
Alma bürstete ein paar unsichtbare Krümel von der Mütze, sie wollte sie nicht aufsetzen, bevor sie die Krümel nicht entfernt hatte, sie bürstete und bürstete, dann schüttelte sie die Mütze, legte sie auf den Tisch und bürstete weiter.
Jon
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