Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
herausgerutscht. Die spitzen Brüste unter der dünnen weißen Bluse hatten ein Eigenleben geführt und sie beim Denken gestört. Alma wollte nicht frech sein. Die Frage war tatsächlich ganz ehrlich gemeint gewesen: Gibt es nicht irgendein Gesetz, das Psychologinnen auferlegt, ihre Brüste zu verdecken, damit sie nicht abstehen und auf andere Menschen zeigen? Ist es nicht wichtig, dass all die verrückten Leute, mit denen Psychologen tagein, tagaus reden, in ihrem Kopf so wenig wie möglich gestört werden? Die Frage war von den Anwesenden aber keineswegs konstruktiv aufgefasst worden.
»Ich kann nicht erkennen, dass dieses Treffen etwas Konstruktives bewirkt«, sagte die Polizistin, sortierte ein paar Papiere in einer Mappe und klappte die Mappe geräuschvoll zu.
Sie schaute Jon und Siri an.
»Ich schlage vor, dass wir uns nach den Herbstferien wiedersehen und dass wir die nächsten zwei Wochen zum Nachdenken nutzen.«
Sie sah Alma an.
»Und Alma, dir gegenüber will ich noch einmal wiederholen, wie schwerwiegend der Vorfall in der Schule ist und wie ernst wir von der Polizei ihn nehmen. Du hast einen anderen Menschen zutiefst gekränkt, du hast ein Verbrechen begangen, weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, wenn du älter wärst, würden wir hier von einem Strafrahmen von bis zu zwei Jahren sprechen. Ich rede von Gefängnis. Und es ist wirklich niederschmetternd, dass du hierherkommst und dich über andere mokierst. Ich bin enttäuscht und traurig über das Ergebnis dieser Sitzung.«
Alma wusste nicht, was mokieren hieß. Aber das Wort gefiel ihr.
Die Psychologin war gänzlich verstummt. Darum musste die Polizistin einspringen und enttäuscht und traurig sein und über das korrekte Ergebnis konstruktiver Sitzungen sprechen. Doch die Psychologin (die geredet und geredet und geredet und geredet und geredet und geredet hatte) war plötzlich gänzlich verstummt, als Alma ihre Brüste erwähnte.
Jetzt habe ich dich zum Schweigen gebracht, dachte Alma, sagte es aber nicht.
Alma Askeladd mokiert sich anderswo als in Albury Australia .
Jemanden zum Schweigen bringen bedeutet: etwas sagen, das jemandem die Sprache verschlägt, jemanden um eine Antwort verlegen machen, jemanden verstummen lassen. Sie hatten im Norwegischunterricht Märchen durchgenommen und von der Prinzessin gelesen, die niemand außer Espen Askeladd zum Schweigen bringen konnte, damals hatte Eva Lund das Wörterbuch aufgeschlagen und deklamiert: etwas sagen, das jemandem die Sprache verschlägt, jemanden um eine Antwort verlegen machen, jemanden verstummen lassen, und Alma fand die Formulierungen schön, auch wenn sie sie nicht ganz verstand, etwas sagen, das jemandem die Sprache verschlägt, jemanden um eine Antwort verlegen machen, jemanden verstummen lassen. Dann hatte Eva Lund die Klasse in Zweier- und Dreiergruppen eingeteilt und ihnen aufgetragen, sich im Rahmen eines Spiels gegenseitig zum Schweigen zu bringen.
Über den Vorfall mit der Schere war im Dagbladet , in der VG und überall im Netz berichtet worden. Das Dagbladet brachte den Fall auf der Titelseite als Teil einer Serie über Gewalt in norwegischen Schulen: 13-Jährige schneidet Lehrerin die langen Haare ab , stand dort in Riesenlettern, und in der Zeitung selbst war zu lesen:
Der Zopf war der ganze Stolz der 52-jährigen Lehrerin. Doch die Früchte lebenslanger Bemühungen fanden ein jähes Ende, als eine 13-jährige Schülerin im Englischunterricht die Lehrerin angriff und ihr 42 Zentimeter ihrer Haarpracht abschnitt.
29.9.2008
Hallo, Eva Leva Lund,
meine Mutter und mein Vater, die Polizei und die Psychologin, der Rektor, die Schüler, Ihre Kollegen und alle Menschen im Königreich Norwegen sagen, dass ich Ihnen einen Brief schreiben und um Entschuldigung bitten soll. Hiermit bitte ich um Entschuldigung. In der Zeitung stand, dass Ihr Zopf 42 cm lang gewesen ist.
Gruß, die mokierende mokorende mokarende Alma Dreyer, 8b
Siri und Jon waren in die Schule gekommen, um Alma im Büro des Rektors abzuholen. Es wurde kein Wort gesprochen. Alma fiel auf, dass Siri dem Rektor gegenüber unsicher war. Mama, die immerzu wusste, was getan und gesagt werden musste, und die für jeden ein Lächeln übrig hatte. Das sagten die Leute über Siri.
Doch als Siri und Jon ins Büro des Rektors kamen, um Alma nach dem Vorfall mit der Schere abzuholen, hatte Siri kein Lächeln übrig. Siri war verwirrt. Alma konnte nicht wissen, dass Siri von ihren Erinnerungen überwältigt wurde und
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