Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
dass sie, als sie dem Blick des Rektors begegnete und Almas abgekehrtes Gesicht sah, daran denken musste, wie Alma mit sechs Jahren in die Schule kam.
Siri, Jon und Alma standen damals auf dem Schulhof und warteten darauf, dass Alma aufgerufen wurde. Alma mit dem rot-weiß karierten Kleid über der blauen Jeans, den kurzen schwarzen Haaren und den dunklen, glänzenden Augen sowie dem großen neuen Rucksack auf dem schmalen violinförmigen Rücken. Sie erinnerte sich an Almas Hand, die sich an ihre eigene klammerte. Und als der Rektor Almas Namen aufrief, zog Alma die Mutter zu sich herunter und flüsterte ihr ins Ohr: Ich traue mich doch. Lass meine Hand los. Und dann ging sie allein über den Schulhof zu dem Lehrer und dem Rektor, grüßte höflich und stellte sich zu den anderen Kindern in die Reihe.
Und jetzt sind wir hier angekommen, dachte Siri, und betrachtete ihre Tochter, die im Korbsessel in der Küche saß und sich weigerte, mit ihr zu reden. Dieses fremde Kind. Wann ist es passiert? Wann haben wir sie verloren?
29.9.2008
Hallo, Frau Lund,
Entschuldigung, dass ich Ihnen die Haare abgeschnitten habe. Ich hoffe, sie wachsen bald wieder nach, und ich wünsche Ihnen weiterhin einen schönen Herbst.
Freundliche Grüße, Alma Dreyer, 8b
Jon und Siri liefen umeinander herum, allein, als befänden sie sich auf zwei verschiedenen Planeten, und liebten dieses fremde Kind. Und die kleine Liv mit den hellen Zotteln hüpfte von Planet zu Planet und sang ein Lied, das sie sich selbst ausgedacht hatte.
Siri setzte sich auf den Küchenstuhl und weinte und schrie ihre Tochter an: »Verstehst du denn nicht, dass wir ihr den Brief nicht schicken können, solange du nicht zeigst, dass es dir wirklich richtig leidtut, dass du es absolut ernst meinst?«
E r versuchte es mit Worten.
Jon sagte zu Alma, sie sei sein Augenstern, ohne sich vorher abgesichert zu haben, er wusste nicht, was der Ausdruck Augenstern genau bedeutete – Augapfel ? – und warum er ebendiesen Ausdruck verwendete.
Dreizehn Jahre. Klein und mollig. Kurze schwarze Haare. Einmal holte er sie von der Schule ab, um mit ihr in die Konditorei zu gehen und eine heiße Schokolade und einen Windbeutel zu verzehren. Sie kamen an einem Tisch vorbei, an dem eine junge Frau saß, die ein Baby auf dem Schoß hielt und Kaffee trank. Die Frau sah nicht auf, um Jon zu studieren. Sie beachtete ihn nicht. So etwas fiel ihm auf. An einem anderen Tisch saßen junge Mädchen, die zu Boden sahen und kicherten, als er mit Alma vorbeiging.
»Das ist unsere neue Tradition«, sagte er munter. »Eine Vater-Tochter-Tradition.«
Alma sagte nichts.
»Kennst du die Mädchen«, fragte er vorsichtig.
»Die gehen in meine Parallelklasse«, antwortete sie.
Zwei riesengroße Windbeutel lagen vor ihnen auf dem Tisch. Seine Stimme war etwas zu laut (oh, wie er sich quälte, aber er hatte keine Ahnung, worüber er mit ihr reden sollte), und das ältere Ehepaar, das nicht weit weg saß und Kaffee trank, drehte sich um, die alte Frau lächelte.
»Ist das nicht schön, vom Papa ausgeführt zu werden?«, sagte sie. Alma schlug die Augen nieder, und die alte Frau sah Jon an und lächelte noch einmal. Ihn nervte alles. Almas mürrische Art, seine eigene laute, joviale Stimme, die Menschen, die ihn anschauten, das Lächeln der alten Frau. Das hier war doch kein Theaterstück! Dann beugte er sich über den Tisch und sprach das Wort, das er sonst nie benutzte: Augenstern . Er sagte es leise. Er wollte, dass sie sich geliebt und wahrgenommen und sicher fühlte.
Aber sie sah ihn skeptisch an. Sie streckte die Hand über den Tisch und schob ihre nach wie vor kurzen Fingerchen zwischen seine Finger und sagte: »Du musst dir nicht meinetwegen was Besonderes einfallen lassen, Papa, irgendwelche Sachen sagen oder machen.«
Er verteidigte sich und sagte: »Aber Alma, das hier mache ich, weil ich Lust dazu habe, es gefällt mir, wenn wir etwas zusammen unternehmen und unsere eigenen Traditionen begründen – und du bist wirklich mein Augenstern .«
Sie schwieg, zog die Hand zurück und pflückte ein wenig an ihrem Windbeutel, sie bekam Sahne an die Finger, die sie mit einer Serviette abwischte. Sie sah zu Boden. Ihre kurzen schwarzen Haare waren nach hinten gekämmt, so dass der Wirbel hochstand, wie bei einer Comicfigur, das verlieh dem ansonsten so ernsten Gesicht etwas Komisches. Als sie klein war, wurde sie Stoppelchen genannt.
»Ich mag überhaupt keine Windbeutel«, sagte sie und hob
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