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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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seien ganz oben in einem Hochhaus, in einem Raum, dessen Fußboden riesige Löcher hat. Man könne durch die Löcher in die Tiefe stürzen. In dem Raum herrsche völlige Dunkelheit. Man könne die Hand nicht vor den Augen sehen. Jeder Schritt sei lebensgefährlich. Aber es gebe einen Lichtschalter in dem Raum. H., sagt er, habe nicht auf die Löcher im Boden geachtet. Er sei einfach losgelaufen, umLicht zu machen. Und dann sei er abgestürzt. Wenn er sich an den Wänden entlanggetastet hätte, sagt er, dann wäre er vielleicht noch am Leben.

XXI
    Der Hausbesitzer hat zum dritten Mal gekündigt und nimmt die Kündigung auch diesmal wieder zurück, als Philip S. mit ihm trinkt und verspricht, im Herbst die Äpfel in seinem Garten in Lankwitz zu ernten. Die Hausbewohner reden jetzt oft von Bomben, die man werfen müsse, ins Arbeitsamt, ins Sozialamt oder bei »denen da oben«, auch beim Hausbesitzer. In der Bildzeitung werden neue Anschläge auf die Vorgärten von Richtern gemeldet, gleich neben der kurzen Nachricht, dass die Bombenleger Philip S. und ich aus dem Gefängnis entlassen worden sind. Der Staatsanwalt hat Beschwerde gegen unsere Freilassung eingelegt. Wenn die Unruhe in den Nächten zu groß wird und sich im Morgengrauen die gewöhnliche Stunde der Verhaftung nähert, stehen wir auf. Philip S. trägt meinen Sohn in eine Decke eingewickelt ins Auto, und wir fahren für den Rest der Nacht zu Freunden.
    An den Tagen räumen wir auf und räumen weg. Zwischen den Überbleibseln von Lebensentwürfen und dem Verlust von Freundschaften suchen wir einen Neubeginn. Ich habe das Gefühl von Endgültigkeit, als ich den Rahmen mit einem Kinderbild von dem Schreibtisch nehme, an dem M. bis zum letzten Tag vor ihrer Verhaftung an Übersetzungen gearbeitet hat. Zusammen mit Büchern, einem Nageletui, Notizzetteln und einem Paar roter Hausschuhe packe ich das Bild in eine Kiste. Während der bald fünf Monate, die sie nun schon im Gefängnis ist, hatte das Bildimmer an der gleichen Stelle gestanden. Niemand hatte es beiseitegelegt, um sich auf dem Tisch auszubreiten. Es zeigt einen dunkelhaarigen kleinen Jungen, den sie vor zehn Jahren in Kairo zurücklassen musste, als sie vor der Gewalt des Mannes floh, dem sie noch als Schülerin nach Ägypten gefolgt war. Ich räume den Schreibtisch des Taxifahrers auf. Die inzwischen verstaubten Abrechnungen seiner letzten Taxifahrten liegen immer noch zwischen Büromaterial und Werkzeugen. Auch für ihn packe ich eine Kiste mit den persönlichen Dingen, beiseitegestellt bis irgendwann. Als sie nach einem Jahr freigesprochen werden, kommt er allein zurück. M. hat sich während der Verhandlungen in den dritten Angeklagten verliebt, den Sechzehnjährigen, der mit im Citroën saß, zwanzig Jahre jünger als sie. Übers Jahr ist er siebzehn geworden und schmiegt sich auf der Anklagebank an sie.
    Die Untergrundzeitung hat in unserer Abwesenheit neue Herausgeber und einen neuen Ort gefunden. Die Regale mit den Zeitungsarchiven sind aus dem oberen Stockwerk abgeholt worden. Andere Leute werden einziehen. Philip S. schleppt die Videoanlage nach unten und installiert sie an dem frei gewordenen Platz. Er wird noch zwei kurze Agitationsfilme drehen, schnell hergestellt zu aktuellen Ereignissen, so wie er es geplant hatte, als er die Videoanlage anschaffte. Der Film über politische Gefangene entsteht in einer Nacht. Bis dahin wurden nur Gefangene anderer Länder als politische Häftlinge betrachtet, die Black Panther in den Vereinigten Staaten oder die Tupamaros in Südamerika. Philip S. aber gibt in dem kurzen Streifen Freunden und Weggefährten, die aus dem Untergrund die Polizei mit Nacht- und Nebelaktionen in Atem halten, einen Platz inder Reihe der Täter, deren Motive im Unbehagen an Staat und Gesellschaft begründet sind. Die Rockband »Ton, Steine, Scherben« schreibt ihr Gefangenenlied für ihn. Philip S. montiert einen Mitschnitt aus den Fernsehnachrichten hinein, die Ende September breiten Raum in der Tagesschau einnehmen. Eine Gruppe von Frauen und Männern hatte innerhalb weniger Minuten drei Banken überfallen. Auf der Suche nach den Tätern wird der Hergang in der Tagesschau genau rekonstruiert. Fluchtwege werden gezeigt, dazu die Fluchtautos, sämtlich mit vier Türen, geschweißte Krähenfüße, aus den Fenstern geworfen, um die Reifen verfolgender Streifenwagen zu zerstechen, zurückgelassene Masken, Kleidung und auch Waffen werden fachkundig vor der Kamera präsentiert. Philip

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