Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
S. zeichnet die Sendung mit der neuen Videoanlage auf. Dann beginnt er zu experimentieren; schließlich gelingt es ihm, dem Bericht einen anderen Text zu unterlegen. Am Ende kündigt der bekannte Fernsehsprecher die drei Banküberfälle als besonders gut gelungene Aktionen zur Geldbeschaffung für den revolutionären Kampf an. Beide Filme laufen auf einem Monitor im Foyer der Universität nach einer Veranstaltung über die Black Panther. In den Zeitungen ist am nächsten Tag von einem »Terrorfilm« die Rede.
In den ersten Oktobertagen kommen sie wieder im Morgengrauen. Noch wissen sie nicht, dass der Film auf unserer Videoanlage hergestellt wurde. Sie haben jetzt Maschinenpistolen, und mein Sohn wünscht sich ein Gewehr. Sie kommen im November und suchen nach Brandstiftern, die in München zwei nicht funktionierende Brandsätze in ein Gerichtsgebäude gelegt hatten. Die Durchsuchungsprotokolle häufen sich. Philip S. legt zwei Justizordner an, einen für sich und einen für mich. In seinem Ordner befinden sich der Rechtsstreit mit der Filmakademie und der Richterspruch, der uns in die Freiheit entlässt. Die Durchsuchungsprotokolle aber heftet er in meinem Ordner ab, als ob die Räume, die von der Polizei jetzt wie eine erste Anlaufstelle in regelmäßigen Abständen auf den Kopf gestellt werden, nicht mehr sein Zuhause wären.
Die Dinge verändern sich schleichend. Jeder von uns hat die Wochen hinter Gittern anders durchlebt. Philip S. hat sich dagegen aufgelehnt, eingesperrt zu sein. Ich habe mich in mich selbst zurückgezogen. Er ist laut geworden. Ich wurde leise. Er hat den Aufstand geprobt, hat die anderen Gefangenen aufgewiegelt, sich den Anweisungen der Wärter zu widersetzen. Ich habe mit den Wärterinnen gesprochen. Ihn haben die Wärter mit Judogriffen niedergerungen. Mich hat keine Wärterin jemals berührt. Er zieht jetzt eine scharfe Linie zwischen sich und denjenigen, die er als Feinde begreift. Ich kann nicht in Feindschaft leben, auch wenn ich vieles als feindlich empfinde. Er hat geschworen, sich nie wieder einsperren zu lassen. Ich habe geschworen, mich nie mehr für etwas einsperren zu lassen, für das ich nicht geradestehen kann. Er glaubt, dass er dem Gefängnis nur entkommen kann, wenn er ein anderer wird. Ich glaube, dass ich es nur aushalten kann, wenn ich bei mir selber bleibe. Er ist rausgekommen, um wegzugehen. Ich bin in mein Leben zurückgekehrt. Er hat mich im Gefängnis an seiner Seite gesehen. Aber ich war nicht dort, ich war bei meinem Kind. An dieser Unvereinbarkeit zerbricht das gemeinsame Leben. Es geschieht in kleinen Schritten, von uns selbst unbemerkt.
Er ist jetzt oft unterwegs. Die Videoanlage ist meistens verliehen. Das bewahrt uns davor, dass sie bei der nächsten Hausdurchsuchung als Beweismittel mitgenommen wird, und bringt zudem Geld für unser Leben ein. An der Filmakademie gibt er mit den Geräten noch immer Einführungskurse in Videografie. An der Kunsthochschule veranstaltet er Seminare im Bereich Visuelle Kommunikation. Mehr als das Filmemachen selbst interessiert ihn jetzt die Analyse dessen, was in Film und Fernsehen mitgeteilt wird. Es geht ihm um die Formen von Herrschaft und Meinungsmache, die mit dem Gebrauch der Medien ausgeübt wird. Er liest die Schriften, die vom Institut für Sprache im technischen Zeitalter an der Technischen Universität Berlin herausgegeben werden. Er eignet sich ein zeichentheoretisches Handwerkszeug an, eine Art Grammatik, mit der er die Sprache der Bilder auf ihre Bedeutungsinhalte und ihre manipulative Macht hin untersucht. Er tut es unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten. Er spielt nicht mehr mit dem ästhetischen Bruch von Konventionen in der Filmsprache, wie er es im Einsamen Wanderer getan hatte; er will wissen, was hinter den Bildern steckt, mit denen täglich Informationen verbreitet werden. Als ihm ein Produzent, der den Einsamen Wanderer gesehen und von der Verhaftung gehört hatte, anbietet, die Erinnerungen eines Terroristen des russischen Sozialrevolutionärs Boris Savinkov fürs Fernsehen zu verfilmen, liest er das Buch und beschäftigt sich eine Weile mit dem Gedanken. Dennoch wird er den Film nicht drehen, weil ihn die Wochen hinter Gittern bereits woandershin geführt haben. Er begreift diese Erfahrung nicht als Sprungbrett ins Fernsehen, wie er sagt. Sie sind ein Einschnitt, der sein Leben verändert. Als er fünf Jahre später zu seinem letzten aussichtslosen Laufauf dem Parkplatz ansetzt, will es
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