Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
scheinen, dass er sich, wie es Savinkov an einer Stelle beschreibt, in das Ende seines Lebens wie in einen Abgrund stürzt, den sicheren Tod vor Augen.
XXII
Nach außen hin nimmt der Alltag in der Fabriketage wieder feste und verlässliche Formen an. Wir kennen das Paar, das bei uns eingezogen ist, aus dem Kinderladen. Sie sind vertraute Weggefährten, mein Sohn und die Tochter spielen schon lange zusammen. Noch immer teilen wir das Geld für Miete und Haushalt und übernehmen abwechselnd Aufgaben. Es schließt sich ein Paar an, das eine kleine Wohnung zum Schlafen und Arbeiten auf gleicher Höhe im Quergebäude gemietet hat. Man kann von unserer Küche in ihre Wohnung schauen. Die Kinder laufen mit einem alten Stoffaffen über ein Schuppendach zu ihnen hinüber, spielen Judy und Tarzan, klettern durchs Fenster und rufen das Paar zum Essen. Weil die Männer Chinesisch studieren, essen wir jetzt oft mit Stäbchen. Sie lesen den Kindern abends die Geschichten der Räuber vom Liang-Schan-Moor vor. Den Namen des Helden sprechen sie dabei im Originalton aus, ein eigenartiger Singsang, der vom Kinderzimmer herüberklingt. Unter den vielen Menschen fällt es nicht auf, dass Philip S. mit seinen Gedanken anderswo ist, dass er wegstrebt, bald nur noch äußerlich an dem geselligen Leben teilnimmt und sich mit seinen nicht mehr mitteilbaren Plänen bereits im Übergang befindet in eine andere, ihm selbst noch undeutliche Existenz.
In manchen Nächten fährt er wieder Taxi. Er benutzt die Dunkelheit und die Tarnung als Taxifahrer für heimliche Begegnungen. Er ist unterwegs, streckt seine Fühleraus zur anderen Seite, zu den Grenzgängern zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit. Für manche von ihnen gibt es kein Zurück mehr. Er denkt, Klarheit schaffen heiße, alle Brücken hinter sich abzubrechen und so den Widerspruch zwischen dem, was man sich vorstellt, und dem, was im täglichen Leben machbar ist, ein für allemal aufzulösen. Er nimmt zu der Gruppe Kontakt auf, der H. sich angeschlossen hat. Er trifft sich mit einem Paar, nach dem im ganzen Land gefahndet wird. Deren Politik jedoch ist nicht die seine. Er hält nichts von spektakulären Aktionen, die den Staat oder den amerikanischen Imperialismus beispielhaft treffen sollen. Das Paar aber zieht ihn an, ihrer beider Entschlossenheit, unverbrüchlich zusammen bis in den Tod. Wenn er in der Nacht zurückkehrt, legt er den Arm enger um mich.
Ende des Winters 1971 gibt er vor, wegen eines Films in die Schweiz reisen zu müssen. Nur ich weiß, dass er nach Italien fährt, um Leute zu treffen, die sich Brigate Rosse nennen und zwischen einem offenen Leben und einer getarnten Existenz im Untergrund hin- und herwechseln. Er hat eine Adresse in Mailand. Wieder trifft er auf ein Paar, das eine führende Rolle spielt und ihn beeindruckt. Mit einer Gruppe haben sie ein leerstehendes Haus besetzt und wagen einen Balanceakt auf verschiedenen Ebenen. Manche diskutieren, demonstrieren, protestieren, andere halten die Zeit gekommen für die illegale Tat. Unter der Hand bauen sie eine Infrastruktur auf, wie sie sagen, für andere Zeiten, wenn ihnen die Taten, in die sie verwickelt sind, die Anschläge, für die sie verantwortlich zeichnen, die Rückkehr in das Leben abschneiden, das sie jetzt noch führen, ein Leben, in dem es noch Freunde und eine Familie gibt,Großeltern, Eltern und Kinder. Sie planen für den Zeitpunkt, der irgendwann kommen wird, den Moment, von dem an Familie oder Freundschaft keinen Schutz mehr bieten, der gewohnte Weg nach Hause zur Falle wird, die eines Tages zuschnappt.
Etwas ist anders bei dem Paar in Mailand und deren Freunden. Noch steht bei ihren verdeckten Taten die Unterstützung der Industriearbeiter im Zentrum, während es der Gruppe in Berlin um Angriffe auf den Staat und seine Politiker und um den amerikanischen Imperialismus und die CIA geht. Kleine Sabotageakte in Fabriken Norditaliens, Sand im Getriebe der Maschinerie, das ist die Richtung, in die Philip S. selber denkt. Er ist fasziniert von den praktischen Fähigkeiten der Gruppe und eignet sie sich an. Nachts ziehen sie los mit einem universalen Zündschlüssel, den sie mit Arbeitern von Fiat zurechtgefeilt haben, und wenn der Schlüssel passt, stehlen sie einen Wagen, unauffällig und schnell. Sie nehmen nicht den Cinquecento, sondern den etwas größeren Fiat, den mit vier Türen, der zum Fluchtauto taugt. Dann folgen sie einem Plan, ausgetüftelt mit einem Gleichgesinnten, der sich in der
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