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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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Fabrik auskennt. Sie legen ein Fließband lahm oder brechen in das Büro des Direktors ein und entwenden Unterlagen für eine geplante Anhebung der Stückzahl beim Akkord. Im Schutz des fremden Kennzeichens benutzen sie das gestohlene Auto für eine Nacht. Bis der Besitzer den Diebstahl bemerkt und der Polizei gemeldet hat, haben sie es längst wieder am Straßenrand abgestellt.
    Als das besetzte Haus in Mailand von der Polizei geräumt wird, werden alle Bewohner verhaftet. Sie bleiben für eine Weile im Gefängnis, danach taucht das Paar unter. Philip S.trifft die beiden erst wieder, als ihr Name schon in den Schlagzeilen der italienischen Zeitungen auftaucht. Aber ihre Vorstellungen von politischem Untergrundkampf werden voneinander abweichen, als das Paar die Konfrontation mit der Staatsmacht aufnimmt, mit Bomben, Entführungen und Mord. Sie werden gejagt, umzingelt und auseinandergerissen. Sie wird im selben Jahr wie Philip S. bei einer Schießerei getötet. Er kommt ins Gefängnis und bleibt zwanzig Jahre dort. Als Philip S. aus Italien in das Leben zurückkehrt, das er noch mit mir teilt, wird es mehr und mehr zu einem Doppelleben.
    Alle Wege werden jetzt potentielle Fluchtwege. Er verkauft den Bus und schafft einen Peugeot mit vier Türen an. Unsere Liebe wird zum Geheimbund. Sie muss jetzt mehr Gewicht haben als vorher. In Fotos, die er von uns beiden macht, gibt er ihr Gestalt. Aber wir sind darauf nicht mehr dieselben. Er, ohne Bart, trägt eine Brille mit Fensterglas. Ich trage eine schwarze Lockenperücke. Er zieht sich in die Dunkelkammer der Filmakademie zurück und passt die Bilder in fremde Ausweise ein, die mit unserem Alter, unserer Größe und Augenfarbe ungefähr übereinstimmen. Ich weiß nicht, wer ihm die Ausweise gegeben hat. Er hat Beziehungen, die ich nicht kenne. Vorsichtig löst er die Nieten, mit denen die Passbilder befestigt sind, und stanzt sie mit einer kleinen Maschine, die für Studentenausweise benutzt wird, wieder ein, haargenau an der gleichen Stelle. Sich auf seine Grafikertätigkeit in Zürich besinnend, hat er den Stempel aus dem fremden Ausweis abfotografiert, auf die Passbildecke projiziert und den Stempelkreis auf dem neuen Passbild vervollständigt. Er sitzt stundenlang an der Arbeit. In den Nächten kommt er leise zurück anmeine Seite. Ich will mir nicht vorstellen, dass er irgendwann nicht mehr kommen wird. Er will sich nicht vorstellen, dass ich nicht mit ihm gehen werde, wohin auch immer. Aber wir sprechen es nicht aus. Wir begnügen uns mit Andeutungen, und wenn wir nachts beieinander liegen, macht die Dunkelheit auch das ungeschehen, worüber wir nicht sprechen können.
    Es gibt jetzt eine Reihe militanter Gruppen, die dem Sog der nächtlichen Taten erlegen sind. Öffentliches Aufbegehren und Demonstrationen reichen ihnen nicht mehr. Sie haben oft genug erlebt, dass ihr Protest sie vor Gericht und in der Presse zu Kriminellen oder Terroristen macht und dem wahllosen Zugriff der Polizei ausliefert. Jetzt wollen sie ein System mit Gewalt zu Fall bringen, in dem immer noch Politiker, die in der SS waren, Wahlen gewinnen und alte Nazis als Richter Urteile fällen. Philip S. sucht den Kontakt zu diesen Gruppen, will sich austauschen über ihr Vorgehen und ihre Ziele und über das, was sie Logistik nennen. Sichere, der Polizei unbekannte Wohnungen zum Unterschlüpfen, Methoden, Pässe noch besser zu fälschen, und technische Ratschläge beim Aufbrechen moderner Lenkradschlösser, für die der aus Italien mitgebrachte Universalschlüssel nicht taugt.
    Immer wieder kommt mir das, was ich wahrnehme, wie die Planung für einen Film vor, in dem sich ein Mann entschließt, ein anderer zu werden. Die mir zugedachte Rolle als Botin probiere ich aus wie ein neues Kleidungsstück und reise nach München. Im Zug verwandele ich mich in eine Schwarzhaarige mit modischem schwarzem Lackmantel. Auf dem Bahnsteig halte ich vergeblich Ausschau. Ich setze mich auf eine Bank und warte auf eine Kontaktperson, dieauf allen Fahndungsplakaten zu sehen ist. Der Bahnsteig leert sich, nur ein Mann in Lodenjacke und Kniebundhosen geht mit gemächlichen Schritten auf und ab. Als ich mich schließlich auf den Weg zu den ausgehängten Fahrplänen mache, um zurückzufahren, taucht der Bayer neben mir auf und sagt leise meinen Namen.
    Sich mit Menschen zu treffen, die von der Polizei gesucht werden, ist ein Übergang in eine Welt, der alle Sicherheit entzogen ist. Jede Situation hat einen doppelten

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