Das verschwundene Kind
schnell hinkriegen, den Verkehr im Kreisel zu regeln«, schwärmte Hölzinger und deutete auf den Autobahnzubringer, der sich auf einer Hochstraße in Richtung Brücke befand. »Schlecht sieht es für die oben auf der A 661 aus. Die kommen so schnell nicht wieder da runter.«
»Das ist jetzt unser geringeres Problem«, kommentierte Stephan und lauschte auf das von statischen Geräuschen durchsetzte Stimmengewirr des Polizeifunks. »Wasserschutzpolizei ist bereits eingetroffen. Sie sperren die Schifffahrt vor der Brücke.«
Hölzinger nickte und gab Gas. Er stand unter Adrenalin und lenkte das Fahrzeug riskant, aber durchaus geschickt zwischen den Hindernissen auf der schmalen Auffahrt zur Brücke. Ab und an ging es nicht weiter, weil das breite Feuerwehrfahrzeug vor ihnen nicht durchkam. Schließlich trafen sie gemeinsam mit der Feuerwehr und einem weiteren Polizeifahrzeug auf der Brücke ein. Hier stand bereits ein Notarztwagen mit blinkenden Lichtern. Die anwesenden Streifenpolizisten hatten alle Fahrspuren Richtung Frankfurt und Oberursel gesperrt und frei geräumt. Auf der Gegenfahrbahn Richtung Offenbach floss der Verkehr wegen der schaulustigen Autofahrer nur zäh dahin. Stephan suchte die Brücke ab, er erwartete, die Kling irgendwo auf dem Brückengeländer balancierend zu sehen. Doch er konnte niemanden erkennen. Mit einem Satz sprang er über die Leitplanke, machte einen Schritt über den Gehweg und beugte sich über das Geländer. Hölzinger war ihm gefolgt. Beide hatten sie denselben Gedanken gehabt. Wir sind zu spät! Sie ist bereits gesprungen! Unten waberten Nebelschwaden über dem Main. Das Wasser des Flusses kräuselte sich und warf das fahle Morgenlicht in den Himmel zurück. Ein großes Lastschiff lag schräg in der Fahrrinne. Davor blinkte das Signallicht der Wasserschutzpolizei. Das Boot stand parallel zum Brückenverlauf.
Ein Uniformierter sprach durch ein Megaphon: »Bitte verhalten Sie sich ruhig! Tun Sie nicht, was Sie vorhaben. Wir werden Ihnen gleich jemanden hinaufschicken, der mit Ihnen spricht. Bitte bleiben Sie ruhig, und bewegen Sie sich nicht. Es wird Ihnen geholfen.«
Stephan musste sich verrenken, um nach oben schauen zu können. Doch er konnte nichts erkennen, nur die riesigen, stahlblauen Spannbögen der Brücke, die sich im grauen Dunst wölbten.
»Wo, verdammt noch mal, ist sie?«
»Komm«, rief Hölzinger. Er sprang bereits über die Leitplanke und lief zurück zur Fahrbahn. Auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Polizisten und Feuerwehrleute und schauten blinzelnd nach oben. Hölzinger und Stephan taten es ihnen nach. Jetzt konnte auch Stephan erkennen, wo sie stand. Ein leichter Schwindel befiel ihn angesichts der Höhe. Sie befand sich auf dem höchsten Punkt des Brückenbogens, Stephan schätzte fünfundzwanzig Meter bis zur Fahrbahn und noch einmal etwa zehn Meter bis zum Wasserspiegel. Wie war sie da hinaufgekommen? Er studierte die Brückenkonstruktion. Jeden Tag fuhr er hier hinüber, und noch nie hatte er einen Blick auf die Einzelheiten dieses mächtigen Bauwerks verschwendet. Etwa vierzig Meter breit und zweihundert Meter lang, spannte sich die Brücke auf genieteten Stahlträgern frei hängend über den Main. Ein markantes Erkennungszeichen der Kaiserlei-Brücke waren die zwei Bögen, die sich über die ganze Länge zogen. Die beiden Bögen bestanden aus jeweils zwei Stahlröhren, die durch einen etwa einen halben Meter breiten Metallsteg miteinander verbunden waren. Es war möglich, auf diesem Steg entlangzulaufen. Um dies zu verhindern, umgaben unten an den Bögen spitze Gitterstäbe diese wie ein Dornenkranz. Dass diese Spitzen keine wirkliche Sperre darstellten, zeigten die zahlreichen Sprayer-Tacks auf den Röhren. Die Kling musste über den Dornenkranz geklettert sein und sich dann auf den Steg zwischen den Röhren begeben haben.
Zwei weitere Feuerwehrautos und Sanitätsfahrzeuge waren inzwischen eingetroffen. Ein Zivilfahrzeug mit Blaulicht hielt direkt vor Stephan, und ein seriös gekleideter Herr mit Halbglatze und kultiviertem Dreitagebart stieg aus.
Hölzinger stöhnte leise auf. »Der Polizeipräsident! Auch das noch!«
Der Einsatzleiter der Feuerwehr begrüßte den Präsidenten, meldete, dass zwei Drehleitern und der Höhenrettungszug vor Ort seien, und trat dann einen kleinen Schritt zur Seite, um den Blick auf Stephan freizugeben. Der Präsident erwartete einen Bericht, den Stephan beklommen gab. Offensichtlich sah der Präsident
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