Das verschwundene Kind
ihn als den ersten Polizisten vor Ort an.
»Ist ein Psychologe da?«, fragte er.
»Ist unterwegs«, erklärte ein Uniformierter. Der Präsident nickte. Aus der Höhe hörte man eine sich überschlagende Frauenstimme.
»Weg mit euch, lasst mich in Ruhe! Haut ab! Haut doch endlich ab!«
»Lange können wir nicht mehr warten«, erklärte Stephan.
Der Präsident nickte. Der Feuerwehrmann schlug vor, jemanden mit der Drehleiter nach oben zu befördern, der mit ihr sprechen sollte.
Stephan wiegelte ab: »Sie ist dermaßen außer sich, dass jede größere Aktion sie noch mehr in die Enge treiben würde. Besser, man läuft wie sie auf dem Brückenbogen nach oben. Mich kennt sie. Ich denke, mit mir würde sie reden und sich vielleicht auch auf eine Lösung einlassen.« Kurze Zeit später halfen Feuerwehrleute Stephan, von der Offenbacher Seite her auf den Brückenbogen zu kommen. Der Polizeipräsident hatte darauf bestanden, dass er nicht allein ging. Hölzinger hatte sich sofort bereit erklärt. Er sollte sich von der Frankfurter Seite her nähern und weiter zurückbleiben. Die ersten Meter des Aufstiegs waren einfach, dann jedoch wurde es steiler, und die Schuhe rutschten auf dem nebelfeuchten Metall des Stegs ab. Eine gewisse Sicherheit boten die beiden Röhren rechts und links. Sie reichten etwa bis zur Körpermitte, jedoch wies der glatte Stahl weder Geländer noch sonstige Haltemöglichkeiten auf. Wer in die Tiefe springen wollte, konnte das ungehindert tun. Erst als Stephan auf etwa sechs Meter an die Kling herangekommen war, entdeckte sie ihn. Die ganze Zeit hatte sie, leicht nach vorn gebeugt, das Geschehen auf der Brückenfahrbahn beobachtet.
Sie richtete sich auf. »Wagen Sie es nicht!«, schrie sie ihm entgegen. Sie zitterte. In ihren Armen hielt sie ein in eine bestickte Decke gehülltes Baby, von dem er nur die rosige Haut der Stirn unter dem Mützchen erkennen konnte.
Er hielt sofort inne und setzte sich in die Hocke. Dabei rückte er unbemerkt noch ein bisschen näher auf sie zu. Hölzingers Haarschopf tauchte auf der anderen Seite auf. Auch er hockte sich hin. Durch die Bewegung entdeckte sie ihn und drehte den Kopf in seine Richtung. Diese Gelegenheit nutzte Stephan, noch etwas näher heranzukommen.
Veronika Kling schaute hektisch hin und her. »Bleiben Sie gefälligst, wo Sie sind! Wir springen sonst!«
Wir
hatte sie gesagt, so sehr fühlte sie sich eins mit dem Kleinen in ihren Armen.
»Mein Kollege und ich werden nicht näher kommen, versprochen!«, erklärte Stephan. »Herr Hölzinger ist mitgekommen, damit einer von uns Ihr Kind und der andere Sie sicher nach unten bringen kann.«
»Ich werde niemandem mein Kind geben. Niemandem, haben Sie verstanden?«
»Gut, dann tragen Sie es nach unten, und wir helfen Ihnen dabei.« Stephan streckte die Hand aus. »Nein!«, rief sie. Sie wandte sich um und sah gebannt flussaufwärts über die Wasserfläche. Sie presste das Kind an sich und schloss die Augen.
»Frau Kling! Tun Sie das nicht!«, rief Stephan.
Sie blickte zu ihm. Ihr Lächeln war bitter und hatte gleichzeitig etwas Überirdisches. »Sie wollen mich doch gar nicht retten! Sie wollen mich doch nur verhaften! Mein Leben ist Ihnen egal. So egal, wie es jetzt auch mir ist. Man muss wissen, wann man verloren hat.«
Stephan überlegte verzweifelt, ob er sich nicht völlig überschätzt hatte und es nicht doch besser gewesen wäre, auf den Psychologen zu warten. Was hätte der getan? Bestimmt viel ruhiger mit ihr geredet und nicht geschrien wie er. Wie konnte er die Kling in ein ruhiges Gespräch verwickeln. Sie war hysterisch fixiert auf ihre anscheinend ausweglose Situation. Er musste ihr einen Ausweg anbieten, aber er durfte nichts Falsches versprechen.
»Ich würde Sie anlügen, wenn ich Ihnen jetzt zusagte, dass Sie straffrei ausgehen. Ja, Sie werden verhaftet. Aber das bietet Ihnen auch die Möglichkeit, zu erklären, wie das alles gekommen ist. In Ihrer Absicht lag das nicht. Sie hatten bestimmt völlig andere Pläne. Pläne von einer Familie mit Kindern in Ihrem schönen Haus.«
Die Augen der Kling füllten sich mit Tränen. »Was wissen Sie denn schon? Gar nichts! Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man immer wieder hofft, wenn man körperlich und seelisch durch die Hölle geht, entwürdigende Prozeduren erträgt. Sie wissen gar nichts.«
»Vorstellen kann ich mir das schon«, sagte er.
Ein splitterndes Lachen löste sich aus ihrer Kehle. »Sie? Ein kleiner Polizist, der mit mir
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