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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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ihn an. Um ihre Lippen zuckte es. Er konnte nicht deuten, ob das ein Lächeln oder Weinen war. Es war eher eine Mischung aus beidem. Sie schaute auf das Kind in ihren Armen und betrachtete es lange. Mit ihren strähnigen, feuchten Haaren und dem entrückten Gesichtsausdruck wirkte sie in ihrem Trainingsanzug wie eine groteske Madonna.
    Mit rauher Stimme sagte sie: »Gestern war eine Mutter in meiner Praxis. Sie hatte keine Betreuung für ihr Baby gefunden und brachte es mit. Ständig schrie es, nicht eine Minute der Entspannung war möglich. Seit gestern weiß ich, dass diese Türkin recht hatte. Ich käme mit so einem Baby nicht zurecht. Ich halte dieses Gesabber und Geschrei gar nicht aus! Ich will das nicht! Und mein Mann auch nicht. Der hat längst andere Pläne!«
    Im selben Moment warf sie das Baby in hohem Bogen in Richtung des Flusses.
    »Nein!«, schrien Hölzinger und Stephan gleichzeitig und sprangen auf. Die Kling lachte ein grausames Lachen, dann stieg sie blitzschnell auf den Metallbogen, breitete die Arme aus und ließ sich rücklings in Richtung der Fahrbahn fallen. Stephan erwischte den Stoff von ihrem Hosenbein, doch er glitt ihm durch die Finger. Ein Turnschuh blieb in seinen Händen zurück. Hölzinger kam zu spät und griff nur noch ins Leere. Sie sahen einander an. Jeder spürte im Blick des anderen, welche Hölle in ihm tobte. Stephan schaute zur anderen Seite hinunter auf den Wasserspiegel, dort trieb ein kleiner Körper. Ein Schlauchboot mit Außenbordmotor fuhr gerade heran. Er beugte sich neben Hölzinger in Richtung der Fahrbahn über die Röhre. Dort unten lag die Kling bäuchlings mit verdrehten Gliedmaßen auf dem grauen Asphalt, sehr ähnlich wie die tote Hatice Ciftci. Um ihren Kopf breitete sich eine dunkle Lache aus. Schnell wurde die Sicht verdeckt von den Einsatzkräften, die herbeiliefen.
    Hölzinger nieste, dann sagte er leise: »Das ist schon wieder die schlechteste aller Möglichkeiten, wie das hier zu Ende gegangen ist.«
    »Es ist meine Schuld«, sagte Stephan leise. »Alles meine Schuld. Du hast alles richtig gemacht.«
    Hölzinger schüttelte den Kopf. »Du hast es gut gemacht. Ich dachte, sie wäre kurz davor, mit uns runterzugehen.«
    Stephan stellte den Turnschuh auf den Brückenbogen. »Ich hätte auf den Psychologen warten sollen. Aber ich konnte nicht über meinen Polizistenschatten springen. Ich wollte das Geständnis. Ich wollte ihre Motive erfahren. Ich habe einen schlechten Job gemacht. Guck dir das bitte nicht ab!«
    »Du hattest keine andere Wahl«, widersprach Hölzinger.
    Stephan wehrte ab. Vor ihren Augen tauchte plötzlich ein Mann mit Feuerwehrhelm auf. Er half ihnen in den Rettungskorb der Drehleiter.
    »Ist der Psychologe inzwischen eingetroffen?«, fragte Stephan.
    Der Mann nickte. »Steht da unten. Aber er konnte nicht heraufkommen. Er leidet an Höhenangst.«
    In dem allgemeinen Tumult war es Stephan nach einiger Zeit gelungen, sich abzusetzen.
    Die Brückenauffahrt war inzwischen von Fahrzeugen geräumt, doch die Polizisten hatten große Mühe, eine Menge Schaulustiger hinter der Absperrung zu halten. Viele Jugendliche waren dabei, vermutlich Schüler der nahe liegenden Schule, die, die bekannten Tüten eines Hamburger-Herstellers in der Hand, mampfend der Reality-Show folgten. Jemand aus der Menge grüßte Stephan. Doch er schaute nicht hin. Er musste jetzt allein sein. Er nahm die Wendeltreppe, die neben dem Brückenpfosten hinunter zum Flussufer führte. Hier tat sich sofort eine andere Welt auf. Das Brummen des Verkehrs und die Geräusche der Einsatzkräfte waren nur noch gedämpft zu vernehmen. Er lief den Weg unter der Brücke entlang, der auf der anderen Seite von wildem, buntbelaubtem Buschwerk gesäumt war. Es gab eine Art Aussichtsplattform. Hier lehnte er sich an das Geländer und schaute über das Wasser in Richtung der Frankfurter Skyline, die schemenhaft im Dunst auszumachen war. Am Knirschen kleiner Steinchen erkannte er, dass sich jemand näherte. Ein zarter Junge trat neben ihn an das Geländer.
    »Hi, Sie haben mich eben gar nicht erkannt!«, sagte eine helle Stimme.
    Stephan musterte seinen ungebetenen Begleiter schräg von der Seite. Abdel! Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Abdel schaute hinauf zu den Brückenbögen.
    »Sebi hat es gesehen und sagt, sie wäre so – klatsch – auf den Boden geknallt, ihr Kopf wäre aufgeplatzt, und sie wäre …«
    »Ist ja schon gut«, brummte Stephan. »Das musst du mir nicht erzählen. Und

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