Das verschwundene Kind
mitgeteilt.
»Morgen früh erwarte ich einen genauen Bericht. Jede Einzelheit könnte von immenser Wichtigkeit sein, also, was sie rund um die Uhr tut, und vor allem, wo und mit wem. Und lass dich nicht von den Frankfurter Kollegen erwischen! Und kein Wort zu Ernie und Gerd! Verstanden?«
»Warum machen wir das nicht zusammen?«, hatte Tobias gefragt, und Lars hatte sofort eine Antwort parat: »Das ist mehr was für Sportskanonen wie dich. Könnten ja Fassadenklettereien oder sonst was auf uns zukommen, und mein Knie macht das nicht mehr mit. Also, meinen Segen für außergewöhnliche Methoden hast du, Hauptsache, wir kriegen Ergebnisse. Ich werde mich der langweiligen Fragerei nach dem ehemaligen Berufsleben der Toten widmen, damit Heck zufrieden ist.«
Aus diesem Grund war Lars Stephan jetzt zu Fuß auf dem Weg zu der Arztpraxis, in der Özlem Onurhan zuletzt gearbeitet hatte. Hölzinger hatte sich mit dem Dienstwagen in Richtung Frankfurt aufgemacht. Stephan blickte hinauf zu dem lichtdurchfluteten Blätterdach und überlegte, dass man die Frankfurter Straße eigentlich Frankfurter Allee hätte nennen sollen, denn sie war rechts und links von hohen Platanen gesäumt, die der kopfsteingepflasterten, schmalen Fahrbahn mit den Straßenbahnschienen in der Mitte eine mediterrane Atmosphäre verliehen. Eigentlich schön hier in Offenbach, dachte er und wusste, dass er mit solchen Äußerungen bei Heck sofort einen Stein im Brett hätte. Bei der Arztpraxis handelte es sich um eine internistische Gemeinschaftspraxis, der drei Ärzte angehörten. Das einstöckige Haus lag etwas zurückgesetzt von der Straße im Schatten mächtiger, alter Bäume.
Die Praxis war das, was Lars Stephan für sich als ultramodernen Schnelldurchlauf-Betrieb bezeichnete. Im Eingangsbereich befand sich eine schwungvolle, zart silbergrau getönte Theke mit durchlöchertem Metalldekor, hinter der verschiedene, äußerst gepflegte und attraktive junge Damen herumeilten, Computer bedienten oder Sortier- und Schreibtätigkeiten verrichteten. Das Telefon klingelte fast ununterbrochen, und eine Frau war allein nur zu dessen Bedienung abgestellt. Die jungen Damen hinter der Theke trugen ihr Haar glatt nach hinten gekämmt und zu Pferdeschwänzen oder Zöpfen zusammengebunden. Wahrscheinlich entsprach das hier der Kleiderordnung. Bezüglich des sonstigen Outfits waren die Regeln offensichtlich etwas lockerer, stellte Lars Stephan fest, als sich ein tiefer Ausschnitt mit fülligen Apfelbrüsten in sein Blickfeld schob. Von weiter oben, wo er noch nicht hingesehen hatte, fragte eine Quetschstimme, was sie für ihn tun könne. Seine ehrliche Antwort wäre in diesem Moment eher unpassend gewesen. Da er die nervtötende Stimme jedoch als unharmonische Ergänzung zu dem verlockenden Dekolleté empfand, gelang es ihm problemlos, sein Anliegen mit der gebotenen dienstlichen Sachlichkeit vorzubringen.
Nachdem er mit der Nonchalance eines Fernsehkommissars seinen Ausweis gezückt hatte, genoss er ein Bad in den Blicken professionell geschminkter Mädchenaugen, in denen respektvolle Bewunderung lag. Eines musste man den Vorabendserien der letzten Jahre lassen. Sie hatten das Berufsbild des Polizisten enorm aufpoliert. Vorbei waren die Zeiten, in denen Ordnungshüter schlichtweg als Einfaltspinsel oder bestenfalls besserwisserische Knöllchenschreiber porträtiert wurden. Stattdessen waren Polizisten in den Augen der Mehrheit nun schwiegersohntaugliche Alltagshelden.
Die Befragung der jungen Damen ergab leider keine nennenswerten Anhaltspunkte. Die meisten hatten Özlem nur kurz oder gar nicht gekannt. Die Quetschstimme hieß sinnigerweise Svenja Stummer und hatte immerhin ein paar Wochen gemeinsam mit Özlem in der Praxis gearbeitet. Ihr Entsetzen über Özlems Tod erschien Lars allerdings genauso übertrieben und gekünstelt wie das der anderen, die augenrollend und »Oh, mein Gott« seufzend, aber dennoch mit Make-up-schonender Mimik reagierten, eben so, wie man das aus amerikanischen Serien kannte.
Auch die Befragung der Ärzte brachte wenig. Sie verwechselten die Damen, was Lars Stephan sogar nachvollziehen konnte. Einer, Herr Dr. Kling, um die fünfzig, silbergrau eingefärbt, mit weißem Oberhemd und Seidenkrawatte unter dem Arztkittel, konnte sich überhaupt nicht erinnern. Die Art, wie dieser Mann unter Strom stand, sich ständig schneuzte und seine Konzentrationsprobleme durch hektisches Durchblättern irgendwelcher Kalender zu vertuschen suchte,
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