Das verschwundene Kind
noch einmal möglichst unauffällig über ihre Erscheinung spazieren zu lassen. Dabei verhakte sich sein Blick plötzlich in dem ihren. Er hielt ihrem Blick stand, weil er sich zunächst nicht sicher war, was er da wahrnahm. Neugier? Nein, eher eine Mischung aus Heißhunger, Gier und abgrundtiefer Sehnsucht. Aber wonach? Ihm wurde heiß.
Sie schien das zu bemerken, denn in ihren signalroten Mundwinkeln zuckte ein geheimes Lächeln. Ihre Blicke glitten von seinen Augen über die Nase zu seinem Mund, dort saugten sie sich ein Weilchen fest, bis sie dann über Schultern und Arme tiefer wanderten und sich um seinen Hosengürtel schlangen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie gedanklich mit ebendem beschäftigt war, was er zuvor mit ihr getan hatte. Unglaublich, dass eine Frau … Er konnte sich nicht erinnern, je schon einmal in einer solchen Situation gewesen zu sein. Er schwitzte, und ihm fiel sein verwaschener Slip mit dem ausgeleierten Gummizug ein. Heute Morgen hatte er ihn aus dem hintersten Winkel seines Schrankes hervorgekramt. Morgen musste er unbedingt einen Waschtag einlegen, ermahnte er sich und war mit einem Schlag ernüchtert.
Mit kühler Gelassenheit löste er sich aus ihrem Blick und zückte sein elektronisches Notizbuch, um ihr die Fragen zu stellen, deretwegen er eigentlich gekommen war. Ihre Antworten gaben nicht viel her. Sie habe das genannte Mädchen nicht gekannt und nie gesehen. Die Praxis ihres Mannes sei sein Reich, für das sie sich wenig interessiere. Sie selbst hatte zwar ebenfalls Medizin studiert, jedoch nur kurze Zeit als Ärztin praktiziert, da sie nach einer schweren Erkrankung den Glauben an die Schulmedizin verloren hatte.
»Jetzt widme ich mich ganz dem Shiatsu«, erklärte sie, »und habe ein kleines Studio in der Innenstadt.« Sie registrierte seinen verständnislosen Blick.
»Das kennen Sie nicht – Shiatsu?«, fragte sie nach.
»Ich bin eher mit Taekwondo und Karate vertraut«, antwortete er.
Ihre roten Lippen produzierten ein spöttisches und zugleich verzeihendes Lächeln. »Das ist keine Kampfsportart, Herr Kommissar«, säuselte sie, »Shiatsu ist die Kunst der Entspannung durch Berührungsdruck. Wenn Sie Interesse haben, können Sie gern in meinem Studio vorbeischauen!« Sie war aufgestanden und hatte aus der kleinen Schublade eines Sekretärs eine zartlila Visitenkarte entnommen und ihm ausgehändigt. Er hatte ihr ebenfalls seine Karte überreicht, falls ihr noch etwas einfiele, und sich dann eilig aus dem Staub gemacht.
Die Nachmittagssonne stand tief, und die niedrigen Temperaturen zeigten an, wie sehr ihre Kraft bereits nachgelassen hatte. Dennoch breitete sich aufgrund der Windstille über allem der Zauber eines friedlichen Spätsommerabends aus, den Lars Stephan weder im Büro noch zu Hause verbringen wollte. Er wohnte in der Bornheimer Landwehr in einem Mehrfamilienhaus mit günstigen Beamtenwohnungen auf einer kleinen Anhöhe unweit des Frankfurter Ostparks. Zu Hause hatte er sich schnell seine Sportsachen angezogen, damit er in dem nahe gelegenen Park ein paar Runden joggen konnte. Es gab nach diesem Tag einiges, das er sich von der Seele laufen musste. Lars Stephan stand auf einem der Wege, die abwärts in den Park führten, und entschied sich für die große Außenrunde, denn die kleine Runde um Wiese und See wimmelte wetterbedingt von Spaziergängern, Joggern, Hundebesitzern und Kindern. Etwas abseits, an einen dicken Baumstamm gelehnt, schlief ein Obdachloser unter einer ausgebreiteten Zeitung. Kopf und Oberkörper waren vollständig bedeckt, nur die Beine, die in teuren Markensportschuhen steckten, waren sichtbar. Wo der die wohl geklaut hat?, sinnierte Lars Stephan. Der Mann saß merkwürdig steif und regungslos da. Als verantwortungsvoller Polizist müsstest du jetzt eigentlich hingehen und nachsehen, ob er noch lebt, dachte Stephan. Doch dazu kam es nicht, denn sein Blick war auf den Weg am See gefallen, den eine Frau mit langen, braunen Haaren leichtfüßig und zügig entlangjoggte. Das gibt es doch nicht, dachte er und warnte sich gleichzeitig. Schließlich hatte er sich vor kurzem schon einmal getäuscht. Dennoch war er alarmiert und wollte unbedingt herausfinden, ob sie es war, natürlich, ohne selbst bemerkt zu werden.
Er zog sich die Kapuze seines Trainingspullovers über den Kopf und schloss sie mit dem Zugband so eng, dass nur noch Mund und Nasenspitze hervorlugten und er Mühe hatte, unter der weit in die Stirn gezogenen Kapuze hervor
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