Das verschwundene Kind
intensiver in die Mangel nehmen.«
Heck stöhnte auf. »Da wird nicht viel mehr herauskommen als bei den anderen Familienmitgliedern auch. Insofern wundert es mich, dass er dafür so viel Zeit beansprucht.«
»Ich werde mich nachher mit ihm treffen und mir anhören, was er herausgefunden hat«, erklärte Stephan.
Heck nickte mit finsterer Miene.
*
Eigentlich wollte Hölzinger sich um vierzehn Uhr mit Stephan in der Fußgängerzone vor der Stadtbibliothek treffen. Stephan hatte die Atmosphäre im Büro nicht mehr ausgehalten. Daher machte er sich bereits zwei Stunden früher zu Fuß in Richtung Innenstadt auf den Weg. Er wollte die Zeit nutzen, seine geographischen Offenbach-Kenntnisse weiter zu vertiefen. In der Frankfurter Straße fand er ein kleines, rustikal ausgestattetes Lokal, das ausschließlich Suppen und Eintöpfe anbot. Er entschied sich für eine herbstliche Kürbiscremesuppe mit Ingwer und Sherry und war, nachdem er die wohlige Wärme im Bauch spürte, wieder etwas mehr mit der Welt versöhnt. Danach schlug er durch einige Seitenstraßen die ungefähre Richtung zur Innenstadt ein. Ein Straßenname rief plötzlich eine Erinnerung in ihm wach. Aus seinem Portemonnaie zog er eine fliederfarbene Visitenkarte. Stimmt! Wenig später stand er vor einem aufwendig renovierten Altbau mit von Sandstein eingefassten Fenstern und Gesimsen. An der geschnitzten Holztür mit Glasfüllung und schmiedeeisernen Gittern prangte ein nobles Schild mit verschlungenen Lettern.
Praxis für Krankengymnastik, Physiotherapie und Shiatsu. Dr. Veronika Kling. Jutta Sauer.
Jutta Sauer? War das nicht der Name von Florian Sauers Mutter? In seinem Kopf begannen sich unsichtbare, rote Fäden zu spinnen, hakten sich an einzelnen Anknüpfungspunkten fest und verbanden Teile miteinander. Eine Frau ist tot, die ein Baby hatte. Sie arbeitete als Arzthelferin bei Herrn Dr. Kling. Dessen Ehefrau betreibt mit der Mutter von Florian Sauer eine Praxis. Florian Sauer lebt in einem Haus mit der Toten und will sie nicht näher gekannt haben. Florian Sauers Vater betreibt eine Klinik für Leute mit unerfülltem Kinderwunsch.
Irgendwo hinter diesem Gespinst verbarg sich ein Motiv. Dessen war er sich plötzlich sicher und wusste, dass er der Praxis der beiden Damen bald einen Besuch abstatten würde. Er rieb sich den Nacken. Da war eine kleine Verspannung. Über den Offenbacher Marktplatz lief er in großem Bogen zur Berliner Straße. Fünfzehn Minuten später stand er vor dem Offenbacher Rathaus, einem hässlichen Hochhausklotz aus der Waschbetonzeit, der geschätzte zwanzig Stockwerke hoch in den Himmel stach. Stephan ließ seinen Blick in der Ebene wandern. Rundherum wölbte sich klotziger Beton. Erfreulicher war der Anblick der gegenüberliegenden Straßenseite, wo Rasenflächen und Buschwerk die Ränder des Büsingparks anzeigten. Inmitten des Grüns erhob sich ein verglaster Bau in Form einer übergroßen Tortenhaube. Die Lettern am Eingang wiesen auf eine Hotelkette hin.
Jetzt fiel es Stephan wieder ein, was Heck neulich erklärt hatte, als sie im Auto hier vorbeigekommen waren: Das war nicht immer ein Hotel, früher war es das Parkbad. Hier habe ich meinen Rettungsschwimmer gemacht. Michael Groß hat noch hier trainiert! Was war das für ein schönes Schwimmbad! Mitten in der Stadt, gut erreichbar. Das Tambourbad oben in Bieber haben sie dann auch zugemacht. Kein Geld mehr da! Jetzt gibt es nur noch ein Schwimmbad auf der Rosenhöhe. Im Sommer ein Freibad, im Winter mit einer Traglufthalle. Schön ist was anderes! Voller Wehmut hatte Heck die besseren Zeiten seiner Heimatstadt geschildert, damals, als Offenbach noch die Lederstadt war mit soliden Gewerbesteuern im Stadtsäckel. Doch eine Fabrik nach der anderen hatte geschlossen.
Stephans Blick wanderte vom Hotel nach rechts in Richtung einer kleinen, putzig renovierten Kirche. Zwischen Kirche und Hotel erstreckte sich ein Flachdachbau, in dem er ein Bistro entdeckte.
Die andere Straßenseite der Berliner gefiel ihm wesentlich besser als die graue Betonwüste vor dem Rathaus. Er könnte dort drüben noch einen Cappuccino trinken und sich dann langsam in Richtung der Bibliothek auf den Weg machen. Irgendwo hinter den Gebäuden musste sie liegen, am besten, er fragte einen kompetenten Offenbacher nach dem Weg. Er hielt Ausschau. Eine Gruppe verhüllter Musliminnen wagte er nicht anzusprechen. Ein junger Mann zuckte freundlich lächelnd, aber hilflos mit den Schultern. Schließlich fiel
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