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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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sein Blick auf einen älteren Herrn mit zurückgekämmter, silbergrauer Haarmähne. Er kam gerade auf dem Radfahrweg mit einem roten Klappfahrrad angesaust. Seine Kleidung hätte besser in einen ordentlichen Mittelklassewagen gepasst. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, dessen Manschetten unter den hochgeschobenen Ärmeln des Jacketts hervorblinkten, und wirkte businesslike. Dem Dresscode entgegen stellte sich allerdings die Tatsache, dass er keinen Schlips, sondern einen lässig geknoteten Schal um den Hals trug. Stephan hielt ihn für ein Original aus der Künstlerszene. Der Mann stieg ab und schob sein Rad über den Rathausvorplatz.
    Stephan ging auf ihn zu. Jetzt konnte er erkennen, dass auf dem Fahrrad die Aufschrift prangte
Offenbacher sind überall.
Der Offenbach-Allround-Künstler gab freundlich und äußerst präzise Auskunft. In seinem aufmerksamen Gesicht tummelten sich einige Schmunzelfalten. Stephan bemerkte, dass Passanten stehen geblieben waren und neugierig zu ihnen herübersahen. Am Ende war der Mann ein in Offenbach bekannter Sänger oder Schauspieler, den man hier kennen musste. Peinlich. Er würde später einmal Heck fragen, vielleicht konnte der mit der Personenbeschreibung etwas anfangen.
    Stephan bedankte sich höflich und überquerte die Berliner Straße. Einen Moment stand er unschlüssig vor der großen Glasfront des Bistros. Plötzlich zuckte er zusammen und suchte Deckung hinter einer großen, mediterranen Topfpflanze, die als Dekoration den Eingang zierte. Zwischen den Zweigen hindurch schaute er in das Innere des Bistros. Er hatte sich nicht getäuscht. Dort an einem Fenstertisch saßen sie sich gegenüber. Sie war eine exotische Schönheit, anders konnte man das nicht bezeichnen. Langes, dunkelbraunes Haar ergoss sich in schweren Wellen über ihre Schultern. Ein harmonisch geformter, roter Mund gab bei jedem Lächeln eine Reihe makelloser, weißer Zähne frei. Ihre dunklen Augen waren umsäumt von einem Kranz dichter Wimpern. Darüber verliefen in sanftem, perfektem Schwung zwei kunstvoll gezogene, feine Augenbrauenstriche. Ihrer Mimik war es deutlich anzusehen: Sie flirtete! Und das sehr geschickt! Wenn sie lachte, schlug sie in scheinbarer Scheu die Augen nieder, nickte ihrem Gegenüber bestätigend zu, was immer er gerade erzählte. So etwas gefiel einem Mann. Ihre zarten Hände mit den langen, schmalen Fingern und den gut gepflegten Nägeln spielten mit dem Anhänger einer zartgliederigen Goldkette, die locker um ihren schmalen Hals lag. Alles, was sie tat, wurde von dem Mann ihr gegenüber genauestens beobachtet. Immer wieder glitten seine Blicke in tiefer Bewunderung über ihre Erscheinung und verfingen sich an der glatten, milchkaffeefarbenen Haut ihres Halsausschnittes, von dem aus nur ein einziges geöffnetes Knöpfchen in der weißen Bluse einen Hauch von Einblick in tiefere Regionen gestattete. Bei manchem, was sie sagte, zauberte sie verlegene Röte in sein Gesicht. Mannomann! Den Kerl hatte es voll erwischt! Der war zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig, dachte sich Stephan. Der Mann, der gegenüber der schönen Frau saß, war Tobias Hölzinger, von dem er seit gestern Nachmittag nichts mehr gehört hatte. Was hatte er gesagt? Er wollte Sümeyye Onurhan noch einmal so richtig in die Mangel nehmen? Von wegen!
    Stephan grinste und beobachtete die Frau weiter. Plötzlich wirkte ihr Blick sehr traurig und niedergeschlagen. Alles an ihr schrie nach Schutz und Hilfe. Hölzinger hatte die Zeichen sofort erkannt, streckte beide Hände aus und umfasste die ihren, die wärmesuchend um die Kaffeetasse lagen. Sie ließ es zu, sah ihn an. In ihren Augen schimmerte es feucht. Hölzinger redete auf sie ein. Sie nickte. Wieder dieses kleine, scheue Lächeln. Eine Träne löste sich. Stephan stöhnte. Das war ja nicht mehr mit anzusehen! Eine Sekunde überlegte er, ob er einen Auftritt hinlegen und das Stelldichein beenden sollte. Dann jedoch kam ihm die Idee, dass es vielleicht wesentlich interessanter war, vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen nachher zu hören, was Hölzinger ihm zur Befragung der Onurhan berichten würde. Also schlenderte Stephan an der kleinen Kirche vorbei durch die Fußgängerzone in Richtung der Stadtbibliothek. Tiefes Erstaunen ergriff ihn. Was war das für ein wunderschöner Straßenzug! Kleine, edle Geschäfte, Lokale mit Außentischen, gepflegt und einladend gedeckt, und dann tauchte linker Hand plötzlich so etwas wie ein kleines, barockes

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