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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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es auch nicht«, entfuhr es Florian Sauer beinahe trotzig, »und ich kann diesen Test auch verweigern.«
    Hecks Gesicht verdüsterte sich, dann veränderte er seine Miene zu einem Ausdruck väterlicher Enttäuschung. »Na, da wären Sie ja dumm, wenn Sie das verweigern. Wenn Sie ein reines Gewissen haben, und davon gehe ich aus, versteht sich das doch von selbst.«
    Er stand auf und ging mit dem langstieligen Wattestäbchen auf Florian Sauer zu wie ein Degenfechter, der eine Offensive startet. Sauer zögerte einen Moment, dann jedoch öffnete er den Mund wie ein artiges Kind beim Schulzahnarzt und ließ Heck die Probe nehmen.
    *
    Als sie aufwachte und in Richtung der Fenster blinzelte, wusste sie wie so oft nicht, wie viel Zeit sie im Land des Vergessens verbracht hatte und welcher Tag heute war. Wichtig war das nicht. Es gab nur immer wieder die Verwunderung darüber, dass sie doch wieder aufgewacht war. Etwas in ihrem Körper wollte das so. Ein letzter Rest von Selbsterhaltungstrieb, gegen den sie nichts ausrichten konnte. Ein Strahl Nachmittagssonne brach durch die trüben Scheiben der Gaubenfenster. Ein heftiger Wind tobte draußen in den beinahe blattlosen Ästen der Bäume und jagte bauschige Wolkenschafe über den blassblauen Himmelsausschnitt, den sie in dem kleinen Karree erkennen konnte. Eine Weile folgte sie diesem Schauspiel und stellte zu ihrem eigenen Erstaunen fest, dass der an den Nerven zerrende Zustand des Getriebenseins, der sie in der letzten Zeit heimgesucht hatte, einem Gefühl von gleichförmiger Ruhe gewichen war. Ruhe! Wie oft hatte sie sich danach gesehnt und dann nur Einsamkeit und Leere gefunden. Jetzt war es Ruhe, eine tiefe, stählerne Ruhe. War das der Zustand der Gleichgültigkeit, der sich einstellte, wenn man mit allem abgeschlossen hatte? Wenn man am Abgrund stand, kurz vor dem Sprung? Kein Geräusch war in der Wohnung zu vernehmen. Nur irgendwo weit weg raunte der Straßenverkehr. Es war das Lebenszeichen im Blutkreislauf eines riesigen, übermächtigen Organismus, zu dem sie längst nicht mehr gehörte. Kein Geräusch in der Wohnung? Eine Erinnerung tauchte auf. Hätte
es
nicht schon längst wieder schreien müssen, dieses Bündel, das ihr so viel Ruhe geraubt hatte. Jetzt war es still. Auch gut. Wo war es überhaupt? Sie wälzte sich auf die andere Seite und stellte fest, dass sie zusammengekrümmt auf dem Fellteppich mit den schmuddeligen, langen Fransen gelegen hatte. Um sie herum knisterte Papier, eine Flasche klirrte, als sie gegen eine andere schlug. Sie blickte in Richtung der Zimmertür, die geschlossen war. Panik durchfuhr sie. Wer hatte das getan? Jemand musste hier gewesen sein. Sie selbst ließ die Tür immer weit geöffnet. Sie musste den Flur sehen, die Gewissheit haben, dass sich niemand näherte. Sie ertrug nicht das geringste Gefühl des Eingeschlossenseins. Wie oft war sie als Kind nach harten Schlägen in den Heizungskeller gesperrt worden. Manchmal hatten sie sie dort vergessen.
    Ihr Blick wanderte von der Tür aus weiter zu den hellen, bodentiefen Glastüren, die hinaus auf die kleine Dachterrasse führten. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Das Bündel! Sie hatte es im Kinderwagen dort draußen abgestellt! Dort draußen in der kühlen Herbstluft hatte es viel länger Ruhe gegeben als hier im stickigen Zimmer.
    Sie richtete sich auf und konnte das hochgeklappte Verdeck des Kinderwagens sehen. Es war über und über mit Laub bedeckt. Wie lange stand es denn nun schon da draußen? Einige Stunden oder einige Tage? Sie erstarrte. Hinausgehen und nachsehen? Das würde sie nicht ertragen. Sie würde es dabei belassen. Schicksal. Ein Gottesurteil. Es war nicht ihre Schuld. Sie hatte sich das nicht ausgesucht. Sie hatte Hatice gleich gesagt, dass sie für diesen Plan nicht geeignet war. Doch diese hatte darauf bestanden, und sie hatte sich gefügt, um Hatice nicht zu verlieren. Hatice war verloren und das Bündel nun auch. Das war gerecht.
    Sie kroch auf allen vieren weg von diesem Anblick und in Richtung der Zimmertür. Mit letzter Kraft drückte sie die Klinke nach unten und manövrierte sich in den Flur. Dort blieb sie einen Augenblick erschöpft liegen. Dann richtete sie sich auf, um die Tür hinter sich zu schließen. Für immer! Diesen Bereich würde sie ab sofort nicht mehr betreten. Ausgeklammert, ausradiert aus meinem Leben. Die einzige Strategie, die ihr bisher geholfen hatte, Unannehmlichkeiten zu beseitigen. Vorübergehend würden ihr Küche und Bad als

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