Das verschwundene Kind
Schloss auf mit zwei langgezogenen Seitenflügeln, die durch ein eindrucksvolles Haupthaus miteinander verbunden waren und eine Art Schlosshof umgaben. Stephan fand eine Tafel und las interessiert, dass sich das Gebäude Büsing-Palais nannte.
»Man denkt, das ist ein Schloss, aber das ist es gar nicht«, hörte er plötzlich eine helle Stimme hinter sich.
Stephan fuhr herum und blickte in die blanken Augen von Micky Maus, genannt Abdel Ben Irgendwas.
»Hallo, Abdel«, sagte er tonlos. Abdel ließ sich von Stephans abweisender Miene nicht abhalten, sondern plapperte munter weiter. »Da sehen Sie es: 1775 , ein Schnupftabakfabrikant hat sich das als Sommerhaus gebaut. Der muss voll die Knete gehabt haben. Einfach nur reingeholt, indem er Tabak vertickt.«
Unwillkürlich musste Lars Stephan grinsen. Was konnte sich dieser Abdel unter Schnupftabak vorstellen? Wohl eher nichts. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es in Abdels Bekanntenkreis einige gab, die Geld damit machten, dass sie etwas zum Rauchen vertickten, war vermutlich hoch. Insofern war Abdels ehrfürchtige Reaktion verständlich. Stephans freundlichere Stimmung gab Micky Maus Aufwind, und er schnurrte einen kleinen Vortrag herunter: »Der Baustil ist Neobarock. Im Zweiten Weltkrieg war es Schutt und Asche. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie alles neu aufgebaut haben. Da siehst du noch die Gerüste. Ganz fertig sind sie immer noch nicht, aber bald. Es steht unter Denkmalschutz.«
Stephan pfiff leise durch die Zähne. »Na, du kannst dir dein Geld ja bald als Fremdenführer verdienen!«
Abdel senkte die Lider und lächelte treuherzig. »Ich weiß das, weil ich gerade hier in der Bibliothek war und recherchiert habe. Mein Team und ich brauchen das für unsere Projektprüfung.«
»Projektprüfung? Was ist denn das?«, erkundigte sich Stephan.
Abdel entwich ein Laut des Erstaunens. »Wissen Sie das echt nicht, Mann?«
»Erkläre es mir!«
Ein Ausdruck der Überlegenheit zeigte sich in Abdels Miene. »Wenn du deinen Haupt machen willst, musst du eine Projektprüfung machen. Mit einer Gruppe von Leuten aus deiner Klasse denkst du dir ein Thema aus und präsentierst es dann. Mein Team und ich sind auf die Idee gekommen, einen arabischen Stadtführer für Offenbach zu machen, also alle wichtigen Ämter, Krankenhäuser, Friedhöfe und so, was man halt so braucht, aber auch Geschichte und Sehenswürdigkeiten, damit die Leute sich besser auskennen lernen.« Während seiner Erklärung waren seine Blicke suchend über den Boden gehuscht, als könne er dort etwas ablesen.
Stephan pfiff anerkennend. »In arabischer Sprache und Schrift? Das nenne ich Arbeit!«
Abdel wirkte verlegen. »Ja, erst hatten wir das so vor. Aber als meine Mutter die erste Seite gelesen hatte, meinte sie, das Arabisch von uns wäre so grottenschlecht, da würde keiner schlau daraus. Jetzt schreiben wir das für alle Ausländer in Offenbach, aber auf Deutsch. Dann können das auch Leute wie Sie lesen, die keine Ahnung von Offenbach haben.«
»Und dein Deutsch ist besser?«
»Rechtschreibung und Grammatik ist Scheiße. Aber meine Schwestern lesen das noch einmal durch, die sind besser in der Schule. Mädchen eben.«
Stephan lachte. »Ich würde dich um ein Exemplar bitten, wenn es fertig ist. Wann ist denn deine Hauptschulprüfung?«
»Projektprüfung im November. Die schriftliche nächstes Jahr im Mai. Ich gehe dann aber nicht ab, sondern ich mach im Jahr darauf noch den Real.«
»Na, du scheinst ja einen klaren Plan vor Augen zu haben«, lobte Stephan.
Abdel nickte zaghaft.
Stephan wechselte das Thema und deutete auf das Gebäude, neben dem sie standen. »Ist das die Stadtbibliothek?«
Abdel nickte. »Da war ich gerade. Meistens mach ich meine Hausaufgaben dort.«
»Kann ich verstehen, bestimmt gibt es dort ohne Ende Nachschlagewerke.«
»Und Computer«, ergänzte Abdel. »Meine Mutter hat mir zu Hause gerade Computerverbot gegeben. Außerdem ist es dort eh zu laut. Ich habe noch fünf Geschwister.«
»Fünf Geschwister?«, rief Stephan. »Wie groß ist eure Wohnung?«
»Groß«, erklärte Abdel. »Drei Zimmer.«
»Was? Nur drei Zimmer bei so vielen Leuten?«
»Reicht doch«, erwiderte Abdel gleichmütig. »Drei Schwestern in einem Zimmer, ich mit meinen beiden Brüdern in dem anderen Zimmer, und meine Eltern schlafen mit dem Baby im Wohnzimmer.«
»Dann seid ihr sieben Kinder!«, stellte Stephan fest.
Abdel wischte sich über die Augen. »Ja, sieben«, bestätigte
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